Mammutgewerkschaft ohne Stoßzähne

Linkes ver.di-Netzwerk traf sich zu Beginn des ersten Bundeskongresses in Berlin

  • Larissa Schulz-Trieglaff
  • Lesedauer: 4 Min.
Gestern begann der erste Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Berlin. 1008 Delegierte wurden erwartet, um Bilanz zu ziehen, die Führungsgremien neu zu wählen und die Ausrichtung von ver.di für vier Jahre zu bestimmen.
Während die meisten Gewerkschafter noch mit der Anreise beschäftigt waren, traf sich am Wochenende das »Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Dienstleistungsgewerkschaft« im Berliner DGB-Haus und zog eine eigene, kritische Bilanz, seitdem sich im Jahr 2001 fünf Einzelgewerkschaften zu ver.di zusammengetan hatten. »Die Mammutgewerkschaft hat ihre Stoßzähne verloren«, resümierte Stefanie Nitschke, ver.di-Delegierte und Betriebsrätin im Klinikum Kassel. Die größte Einzelgewerkschaft der Welt leide unter mangelnder Kampfbereitschaft und unter einem schon vor längerer Zeit einsetzenden Demokratieverlust. Daher trafen sich die rund 50 ver.di-Mitglieder und Mitarbeiter des linken Netzwerkes, um vor Kongressbeginn ihre eigene, sehr kritische Bilanz zu ziehen. »Stark in der Gegenwehr - so lautet unser Motto«, begrüßte Netzwerker Jörn Kroppach die Gekommenen. Damit stellen sich die aufmüpfigen Gewerkschafter der ver.di-Chefetage entgegen, die die Delegierten mit den drei Wörtern »Im Wandel stark« nach Berlin geholt hat. Angesichts der »größten Angriffe auf sozial Schwache, Rentner und Jugendliche«, so Kroppach weiter, fordert das Netzwerk eine konsequente Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Mit der Vereinigung von fünf Gewerkschaften aus dem Dienstleistungsbereich zur Großgewerkschaft hätten sich die längst vorhandenen Probleme um ein Vielfaches verschärft. Dabei sollten größere Kampfbereitschaft und damit einher gehende Mitgliederzuwächse die Folge sein. Das sei nicht eingetreten. Seit der ver.di-Gründung im März 2001 sind rund 200 000 der damals knapp 3 Millionen Mitglieder ausgetreten. Die Streikbereitschaft habe ab-, auf keinen Fall aber zugenommen, kritisieren die linken Gewerkschafter. Statt auf wirksame Aktionen setze die Gewerkschaft auf Stillhalten, das von wortgewaltigen Drohgebärden und Verhandlungen unterbrochen werde. »In Deutschland ist der größte Sozialabbau seit Kriegsende in vollem Gange, und ver.di tut nichts«, meint Stefanie Nitschke. Sie kritisierte das Fehlen gemeinsamer Strategien bei ver.di. Die Vertretung der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst sei auf mehrere Fachbereiche aufgeteilt worden, es werde nicht zusammen, sondern aneinander vorbei gearbeitet. Die Strukturen sind für sie total unübersichtlich. »Es ist, als würden 13 kleine Gewerkschaften nebeneinander her existieren«, lautet die ernüchternde Bilanz der Betriebsrätin. Nitschke und ihre Kollegen haben zwei Jahre lang gegen den Verkauf des Klinikums Kassel gekämpft. »Wir fühlten uns von ver.di alleine gelassen«, beschreibt sie. Die Gewerkschaft unternehme wenig gegen die Privatisierung der Kliniken, die in vollem Gange ist. Vielmehr sei ver.di auf den Regierungskurs eingeschwenkt, den Gesundheitsbereich marktwirtschaftlich auszurichten. Gesundheitsexperte Karl Lauterbach berate nicht nur Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), sondern auch ver.di, fügte Dieter Janßen, Personalratsvorsitzender des Bürgerhospitals Stuttgart, hinzu. Krankenhäuser werden privatisiert, geschlossen oder verkleinert, die Belegschaften geschrumpft - »ver.di aber verhält sich ruhig«, kritisierte Janßen. Auch lasse es die Gewerkschaft zu, dass die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes immer mehr durchlöchert würden. Während die Netzwerker ihre Kritik zusammentrugen, schickte Jörn Kroppach eine Mütze durch die Hände der Teilnehmer, um Spenden zu sammeln. Tagen durften sie im Haus ihres Dachverbands, des Deutschen Gewerkschaftsbundes, schließlich nur gegen Bezahlung. Diese Tatsache trug nicht gerade dazu bei, die Stimmung der Gewerkschaftsmitglieder zu verbessern, die sich zwischen Resignation und Kampfbereitschaft hin- und herbewegte. Einige langjährige Kollegen konnten ihren Frust nicht verbergen. »Ich sehe in dieser Gewerkschaft keine Perspektive mehr«, sagte Michael Hans, Personalrat im Berliner Bezirksamt Steglitz/ Zehlendorf, mit gedrückter Stimme. Nachdem er seinen Austritt angekündigt hatte, versuchten mehrere Kollegen aus anderen Städten, ihm diesen Gedanken auszutreiben. »Ich würde nie austreten, vielmehr müssen wir die Gewerkschaft von unten ummodeln«, entgegnete einer. Scharenweise Austritte von Mitgliedern führen auch zu geringeren Beiträgen und damit zu einem Defizit in den Gewerkschaftskassen. Zu spüren bekommen das als erstes die Beschäftigten der Arbeitnehmerorganisation selbst. Ein Haushaltsdefizit von rund 59 Millionen Euro für das Jahr 2003 hatte ver.di-Chef Frank Bsirske kürzlich angekündigt. Ab kommenden Januar müssten die derzeit 5000 Arbeitsplätze bei ver.di auf 4200 reduziert werden. Angesichts solcher Zahlen wurmt es die engagierten Gewerkschafter umso mehr, wenn sie an Bsirskes Gehaltszettel denken, auf dem die Zahl von 13500 Euro pro Monat vermutet wird. »Außerdem hat die ver.di-Spitze ihre Bundeszentrale ausgerechnet am Potsdamer Platz und damit an der teuersten Stelle Berlins errichtet«, zählt Stefanie Nitschke einen weiteren Kostenfaktor hinzu. Führt Bsirske den unaufhaltsamen Mitgliederrückgang auf die zunehmende Arbeitslosigkeit zurück, sehen die Netzwerker die Gründe eher in der mangelnden Kampfbereitschaft des Gewerkschafts-Kolosses und in der starken Abhängigkeit von der Regierung. »Die Zusammenarbeit mit der SPD ist für ver.di ein großes Hindernis« - darin sind sich die Kritiker einig. Ver.di müsse zur Kampforganisation der arbeitenden Bevölkerung werden, verlangte eine Netzwerkerin entschieden. Die aufmüpfigen Gewerkschafter werden sich weiter treffen, dichter vernetzen, ihre Forderungen in die Gewerkschaft hineintragen und versuchen, Kollegen für sich zu gewinnen. »An der Basis rumort es«, machte sich Stefanie Nitschke Hoffnung.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal