Eis sucht Kühlung beim Eis

Freie Kammerspiele Magdeburg: »Wassa Shelesnowa« von Maxim Gorki

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Sie scheint noch nicht sehr menschenalt zu sein, aber ihre Seelenkammer ist seit tausenden von Jahren sonnendicht. Der Hosenanzug macht sie uniform, vielleicht will wenigstens die Gürtelschnalle weiblich sein - nein, auch nur ein Eisenvorhang. Wie ja alles Eisen ist an ihr: Shelesnowa eben, die Eiserne. »Wassa Shelesnowa« von Maxim Gorki (1910/35) - heute ein selten gespieltes Stück. Zu Unrecht. Tobias Wellemeyer inszenierte es an den Freien Kammerspielen Magdeburg. Porträt einer Kapitalistin, die ihre ökonomischen Siege mit allem bezahlt, was eine zerrüttete Familie ausmachen kann: ein Mann, der die Kinder missbraucht; eine Tochter debil, die andere Alkoholikerin, der Bruder ein noch größerer Trinker. Alles hat seinen Preis, vor allem das Unbezahlbare. In harter Welt wäre Selbstenthärtung tödlich, und so wird Wassa, wissend um die Grausamkeit der Geschäftsregeln, den Zusammenhalt der Un-Familie versuchen, bis sie selber tot in jenen menschlichen Scherbenhaufen stürzt, der ihr Lebenswerk war. Iris Albrecht lässt von Beginn an keine Zweifel, dass diese Wassa ein fürchterliches Wesen ist. Inmitten eines schreienden, stampfenden Chaos der gegenseitigen Beleidigungen und Verletzungen steht sie, die Hände in den Hosentaschen, und steuert den allgemeinen Zynismus militaristisch durch den Geschäftstag. Nur einmal wird sich Anna, die Sekretärin, zu ihr aufs Sofa legen. Wassa, der blonde Panzer, friert. Kurze, fehlgeleitete Wärme. Herzblut kommt hier nur aus Krampf-Adern. Iris Kraft hat einen Bungalow à la Castorf/Neumann gebaut, der sich für triste, traurige Einblicke dreht. Links das Büro, in der Mitte ein Sofa, rechts die Kochecke. Mit Kühlschrank, dessen Tür Wassa am Ende, kurz vorm Infarkt, aufreißen wird: Eis kühlt sich an Eis. Wenn sie stirbt, zeigt der kleine Fernseher in der Ecke ein Fußballspiel. Es wird gerade ein Tor geschossen. Bevor auch auf der Bühne geschossen wird: Rachel, die revolutionäre Schwiegertochter, eine ewige Flüchtige, der die Shelesnowa die Herausgabe des kleinen Sohnes verweigerte, erschießt alle, außer die debile Ljudmila. So gibt Wellemeyer dem Gorki-Stück am Schluss eine hasserfüllt gerechte Richtung - die Hinrichtung. Dieser Rachel-Engel ging hoch aufgerichtet, im schwarzen, durchglitzerten Kleid, durch die Szenen des besoffenen, verdorbenen Elends. Annett Sawallisch: eine schöne unwirkliche Fremde mit großen starren Augen, eine utopische Ikone. Sie steht der Shelesnowa nicht als abgerissen-proletarisches soziales Pendant gegenüber, sondern als die andere Möglichkeit bürgerlicher Entwicklung. Als erwachse die Anarchie, die Gegenwelt zum Kapitalismus, nicht aus der gegnerischen Klasse, sondern keime im Herzen der Finsternis selber. Erst in den Szenen mit Rachel überzieht Iris Albrecht die Bosheit ihrer Wassa mit einem verzweifelten Charme, da wird die erdrückende Anstrengung spürbar, beherrscht zu bleiben; was wie Souveränität aussieht, rast nun wortlos vor Schmerz. Die Inszenierung ist Rausch, Ekel, aggressive Gemeinheit, stumpfe Kälte. Die Organisationsform dieser »Familie«: die Orgie, der gespenstische Vergessenstaumel hinterm Rücken der Hausherrin. Wie sich hier alle in Alkohol ertränken, so ertränkt Wellemeyer alle Gestalten in schwitzender, zuckender, geiler Drastik - so dass sämtliches Leben gleichsam kreischend und gurgelnd verröchelt. Die Inszenierung brüllt exekutierend. Ohne dass noch jemand Sinn und Verstand haben dürfte. Das aber ist die bewegende Frage: Wie viel an Sinn, an Verstand ist heute überhaupt noch austeilbar in diesem ratlos zornigen, traumleeren Theater der altjüngeren Regie-Generation? Das sich am Leben erhält, indem es stets »nur« (?) sein übermächtiges Gefühl von Leblosigkeit in einen äußeren Ausdruck verwandeln kann, in gewalttätige Abgeschlafftheit. Steinewerfen, aber im Plexiglashaus - die Steine prallen zurück, und das Theater zeigt orgiastisch seine Kunstblutwunden. Die Magdeburger entdeckten Gorki, um das eigene kopfschmerzzerschlagene Zeitgefühl zu bestätigen. Das ist ehrlicher als jedes kulturelle Narkotikum. Aber, aber, aber: So wie Wassa ihrem knechtischen Geschäftsführer ein zerknülltes Schriftstück in den Mund stopft, als sei das der Papierkorb - so steckt Gorki gleichsam als Reclamheft zwischen Schauspielerzähnen, er wird dort grob gerissen und in tausend papiernen Einzelteilen ausgespuckt. Lenin an der Wand, Putin mitten im Gorki-Text, Videospiel auf dem PC als Beruhigungsmedizin für Wassa - so surft die Aufführung auf einem Meer der Assoziationen; jetzt ist jederzeit, und wie es ist, war es schon immer. Lauert da nicht die Gefahr einer Zügellosigkeit von Regie-Fantasie, mit der Theater just an der Zerstörung von Fantasie arbeitet? Wenn ich in einer Aufführung fortwährend urteilssicher »So ist es!« denke und immer weniger unsicher frage »Was ist nur mit diesem Menschen da?« - dann wird Theater, als grelle Imitationsform einer perfiden Realität, auf Dauer nur als andere Form jener Stagnation wahrgenommen, der es sich widerständisch entgegenschleudern will. Es schreit und dröhnt und bleib...

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