Blicke durch die Kamera

  • Margit Voss
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Amerikaner Kimberly Miner hat das Perpetuum mobile erfunden. Er präsentierte es im Animationsfilmwettbewerb einer begeisterten Zuschauerschar in nur eineinhalb Minuten. Von einer Katze weiß man, dass sie stets auf ihre vier Pfoten fällt. Eine Toastscheibe hingegen fällt immer auf die mit Marmelade bestrichene Seite. Ergo: Wenn man einen bestrichenen Toast auf einen Katzenrücken bindet, hat man eine fortwährende Rotation, die sogar Züge bewegen kann. Kimberly lieferte sogar dazu die physikalische Formel, die ich im Dunkel des Astoria Kinos zu Leipzig nur nicht mitschreiben konnte. Schade. Der kränkelnden Wirtschaft hätte man so auf die Sprünge helfen können. So vergnüglich wie im Animationsfilmwettbewerb ging es nur noch bei der Hommage an den Münchner Regisseur Peter Schamoni zu, dessen künstlerisches Gesamtwerk am Samstag mit einer Goldenen Taube ehrenhalber bedacht wurde. Schamoni, dessen frühe Arbeiten »Moskau 57«, »Osterspaziergang« und »Die Teutonen kommen« den Geist der Aufmüpfigkeit des Oberhausener Manifestes von 1962 atmeten, drehte später neben seinen Spielfilmen allein vier wichtige Filme über Max Ernst, je einen über Friedensreich Hundertwassser, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely sowie eine fiktive Collage über Caspar David Friedrich, in denen der Beweis erbracht wird, dass es nur wenigen gegeben ist, einer Zeit den ihr eigenen Ausdruck in ein Kunstwerk zu übertragen. Wie man davon ergriffen werden kann, hatte Schamoni durch das von den Nazis als »entartet« bezeichnete Werk des Surrealisten Max Ernst in einer Kölner Ausstellung erfahren. Wie besessen versuchte er, diese Faszination an andere weiterzugeben. Er schaffte es durch Annäherung. Annäherung an den jeweiligen Künstler, Annäherung an das Werk. Durch die Zusammenschau in Leipzig fühlte man sich in die Lage versetzt, die Verbindungslinie zwischen einem Caspar David Friedrich und einem Friedensreich Hundertwasser zu ziehen. Beide waren auf ihre Weise in der Lage, den Kunstbegriff zu erweitern. Mit dem in Leipzig präsentierten Band »Peter Schamoni - Filmstücke« und der von Hilmar Hoffmann gehaltenen Laudatio kann die Hommage als Glanzpunkt der Dokfilmwoche gelten. Zu deren Beginn hatte Festivaldirektor Gehler Heinrich Heine zitiert, »Deutschland ein Wintermärchen«. Wie würde sich der geistreiche Spötter heute über die Zustände in Deutschland äußern, fragte er, wie über die Auslassungen alternder Fußballstars und die Ejakulationen so genannter Pop-Idole? So kampflustig hatte man Gehler noch nie erlebt. Er setzt darauf, Leipzig nach wie vor zu einem Fest für den Dokumentar- und Animationsfilm zu machen., zu einem Brunnen, aus dem man belebendes Wasser schöpft. Der Besucher hatte alle Möglichkeit, seinen Vorlieben auf diesem Festival nachzugehen. Beispielsweise die Retrospektive unter dem Titel »Bild/Gegenbild« zu genießen, die der russischen Avantgarde und deutschen Filmen aus vier Jahrzehnten gewidmet war. Zufall oder kluge Kalkulation? Der Wettbewerb des Dokumentarfilms, sonst Mittelpunkt des Geschehens, war nur mühsam auszumachen, und das Angebot präsentierte sich schwächer als sonst. Zwei lange Filme zum Thema Gewalt, beispielsweise »S 21 - Die Todesmaschine der Roten Khmer« und »Bus 174« aus Brasilien kamen dem Phänomen unmenschlichen Tuns meiner Ansicht nach nur unvollkommen bei. Dennoch verlieh die Jury dem französischen Film über Kambodscha die Goldene Taube. Rithy Panh, selbst 1975 in ein Umerziehungslager gezwungen, konfrontiert Täter und Opfer an einem Ort des Todes miteinander, versucht, sie zum Sprechen zu bringen und die Malerei als Mittel der Vergangenheitsbewältigung einzusetzen. Fassungslosigkeit breitet sich aus. Der Befehl stand höher als jegliche menschliche Regung. Unmenschlichkeit, die mit immer gleichen Riten wechselseitig um den Erdball wandert? Die Silberne Taube wurde »Hugo und Rosa« verliehen, dem liebevollen Porträt eines Geschwisterpaars, das der Schwede Bengt Jägerskog zehn Jahre lang mit der Kamera begleitet hat. »Es ist gut, jemandem nützlich zu sein, so lange man am Leben ist«, beschrieb die über 90-jährige Rosa ihre Fürsorge für den Bruder, mit dem sie ein Jahrhundert verbracht hat. Als fühlte sich die Jury diesem Prinzip besonders verpflichtet, gab sie die Goldene Taube für den kurzen Dokumentarfilm ebenfalls nach Schweden. »Mein Vater - der Inspektor« heißt Pea Holmquists Film über seinen leiblichen Vater, der in den 50er Jahren in den Slums von Kristianstad unterwegs war und seinen zehnjährigen Sohn mitnahm, der mit der Schmalfilmkamera festhielt, was er in den Wohnungen vorfand: Elend, Dreck und Verwahrlosung. Er zeigte aber auch Menschengesichter, die von schwerem Leben gezeichnet waren. Und der Vater »waltete nicht nur seines Amtes«, er war so manchen Mannes Freund. Erst heute weiß Holmquist, dass er bei seinem Vater in die Schule gegangen ist, geprägt für sein Leben mit dem Blick durch die Kamera, dem Menschen verbunden, den er filmt. Obwohl nicht durch einen Preis herausgehoben, werde ich nicht die Muschelsammler des Dorfes Haiyang in China vergessen, die man in 30 Minuten kennen lernte. Eine Straße, die neun Kilometer ins Meer führt, ist nur bei Ebbe begehbar. Dann wälzt sich täglich eine tausendköpfige Menge auf ihr zu den Sielen. Die Gründe werden aufgewühlt, Muscheln mit den Händen in Netze gefüllt. Eilig muss die Last geschultert werden. Schnell, schnell, das Meer kommt gleich zurück. Wohl dem, der ein Fahrrad sein Eigen nennt.
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