nd-aktuell.de / 12.08.1993 / Politik / Seite 1

Die Ärmsten zahlen die Zeche

Bonn (ADN/ddp/Reuter/dpa/ND). Die Bundesregierung hat am Mittwoch das umstrittene Sparprogramm von Finanzminister Waigel (CSU) für 1994 auf den Weg über die parlamentarischen Hürden gebracht. Unter Vorsitz von Vizekanzler Kinkel (FDP) billigte das Kabinett auf einer Sondersitzung in Bonn zwei Gesetzentwürfe, die den Bund im kommenden Jahr um 21,2 Milliarden Mark entlasten sollen. Erzielt werden soll dieser Betrag u. a. durch eine einjährige Nullrunde bei den Sozialhilfesätzen sowie durch Kürzungen bei Arbeitsförderung, Kinder- und Erziehungsgeld sowie Streichung des Schlechtwettergeldes und der Arbeitnehmersparzulage. Ferner ist zum 1. Januar 1994 eine Anhebung der Mineralölsteuer vorgesehen.

Waigel verteidigte das Paket dennoch als sozial ausgewogen und wirtschaftlich notwendig. Kritische Stimmen aus den Reinen der CDU-Sozialpolitiker seien für die Union nicht repräsentativ

Als „sozial ungerecht“ und „wirtschaftspolitisch falsch“ charakterisierte dagegen die SPD-Finanzexpertin Matthäus-Maier das Sparkonzept.

Es gefährde den sozialen Frieden und schwäche die Konjunktur. Der SPD-Sozialexperte Dreßler warf der Regierung vor, mit ihrer Politik den Anstieg der Arbeitslosigkeit noch zu beschleunigen.

Der saarländische Ministerpräsident Lafontaine sprach von einem schweren Verstoß gegen ökonomische Vernunft und soziale Gerechtigkeit.

Durch die Kürzungen bei der Bundesanstalt für Arbeit würden die Betroffenen zu Sozialhilfe-Empfängern gemacht.

Der DGB befürchtet, daß durch die Sparbeschlüsse zusätzlich bis zu 70 000 Menschen arbeitslos werden. Eine DGB-Sprecherin betonte, mit dem Spargesetzen nehme die Regierung offenbar bewußt eine Verschärfung der sozialund arbeitsmarktpolitischen Probleme in Kauf.

Auch von der ÖTV kam scharfe Kritik. Bonn hantiere mit „sozialpolitischem Sprengsatz“, betonte ÖTV-Chefin Wulf-Mathies. Die Koalition wolle ohnehin Benachteiligte weiter schröpfen und gleichzeitig dem Arbeitsmarkt Mittel zur Bekämpfung

der wachsenden Beschäftigungskrise entziehen.

Das Sparpaket stieß ebenfalls auf scharfe Kritik bei der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft. „Diese Bundesregierung hat das soziale Augenmaß völlig verloren“, erklärte Bundesvorstandsmitglied Freitag. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes, für das die Arbeitslosen jahrzehntelang Beiträge gezahlt hätten, sei „staatlicher Versicherungsbetrug“. Die Bundesregierung habe „keine politischen Skrupel, selbst noch bei den Ärmsten zu sparen“.

Der Caritas-Verband warnte vor den Konsequenzen für die Sozialhilfeempfänger. Es sei unverantwortlich, bei den sozial Schwächsten zu sparen.

(Dokumentation Seite 5)