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Altersstil? Neue Jugend? Alles zusammen

  • HARALD KRETZSCHMAR
  • Lesedauer: 4 Min.

nistration den Einflüsterungen der rührigen Galeristin Liane Morgner und gab die Zustimmung und einige Mittel zum Ausbau eines Kunsttempels. „Galerie im Ermelerspeicher“ - seit nunmehr fünf Jahren mit etwa zehn Ausstellungen jährlich die bildkünstlerische Perle der Uckermark. Das farbstrotzende Plakat RONALD PARIS BILDER lockt uns heute hinein.

Der Aufstieg im Treppenhaus bringt schon den Einstieg in die ersten Bilder: Hafenstadtszenen, Venedig, Chioggia, Saint Remys, dicht bei dicht verdichtete Natur. Dazwischen „Der glücklose Engel“ zu Versen Heiner Müllers. Alles Gouachen auf Papier wie die ganze Schau. Entstehungsjahre 1989 bis 1993: Der neueste Paris. Altersstil? Neue Jugend? Erfüllung langgehegter Erwartungen? Alles zusammen. Mit sonorer Farbpracht empfängt uns oben ein vergleichsweise niedriger Saal. An die dreißig große Querformate an den Wänden, zwischen den Fenstern und an den zwei Säulen summieren sich zu einem Fries vitaler Erlebnismalerei. Das Raumerlebnis birst fast unter der Wucht der Farbakkorde.

Im Gegensatz zu vielem heutzutage wild Gemalten fügt sich hier alles zum Farbklang. Paris füllt die Fläche aber sie wirkt nie überfüllt. Er schafft neuerdings Kraftfelder mit kulminierenden Zentren. Er wirbelt die Farbe furios - aber nie hektisch. Das malerische Detail ist genußvoll ausgekostet - aber nirgends kleinlich. Er organisiert seine Fläche - aber stuft sie räumlich von grundierender Lasur zu deckendem Pinselschlag. Je abstrakter die Bilder von Stufe zu Stufe werden, desto mehr gewinnen sie an Tiefendimension. Realo-Bilder wirken schneller; ihre Wirkung verpufft jedoch rascher.

Der Blick wird zunächst von erkennbaren Motiven wie „Alte Gärtnerei“, „Römisches Amphitheater“ oder „Kirchturm von Cortona“ eingefangen, löst sich bald davon und wird zunehmend von Abstraktionen gefesselt. Die Übergänge fließen - es bleibt Toscana oder Umbrien, gesteigert durch das Temperament Ronald Paris'. Rotgrünblauklänge auf sattem Umbra wirbeln, ziehen, stoßen, ballen sich. Im Zinnober-Kobaltblau-Kon-

trast entwickelt sich großflächig „Maritim“ als spielerischer Ausflug in die absolute Freiheit der Improvisation.

Gleichzeitig Höhe- und Ruhepunkte im Furioso stellen die beiden Dreiergruppierungen dar: Die eine mit drei Querformaten übereinander gestaffelt - „Begegnung der Kulturen“ im Lebensraum der Etrusker. Eine anrührende Verbeugung vor der Vergangenheit und doch ganz gegen-

wärtig. Die andere Dreierkomposition ist als Triptychon konventioneller. „Pietä Nagorny Karabach“ wirkt wie ein früher Paris. Hier wagt er noch nicht den entscheidenden Schritt in die expressivere Dimension. Und gerade hier wäre er so dringend geboten: das „große“ Thema, vorgetragen in der nunmehr durch und durch vergeistigten Bildsprache des Paris von 1993, das könnte ein „großer“ Wurf werden...

Andererseits: Wer will heute mit großen Würfen beworfen werden? Die bange Frage verhallt im Treppenhaus, während wir wiederum in die Höhe steigen und in der nächsten Etage sozusagen die Zugabe zur Hauptsache genie-ßen. Skizzenhafte Etüden, eine kleine Reverenz an das Vorbild De Kooning von 1984, und schließlich der Raum mit dem Endpunkt: „Hochland“ und „Tiefland“ werden als große ruhige Form gegeben.

Und in der Nachbarschaft noch einmal zu Heiner Müllers „Projektion“ von 1989. So schließt sich der Kreis.

Auf der Heimfahrt hat man die Bilderlebnisse im Kopf, und sie senken sich in die Seele. Nach soviel gesteigertem Apulien oder Provence ä la Ronald Paris verändert sich die Sicht auf die karge märkische Landschaftskulisse. Welche Wege, welche Umwege nimmt Malerauge Malerseele Malerhand zum Kern der Dinge? Viele Wege führen nach Rom, viele zurück ins Rangsdorfer Atelier. Schwedt feiert Ronald Paris - Berlin nicht? Gehört solcherart zu Kunst destillierte Lebenswahrheit nicht in eine größere Öffentlichkeit? Wird sich dort, wo nach wie vor in West-Ost-Denkschablonen geurteilt wird, endlich der eiserne Vorhang vom Auge der Kunstverständigen heben? Oder bleiben sie eisern und unbeirrt bei Vorurteil und Vorverurteilung - hie selige Individualkunst, da unselige Staatskunst?

Oder rast man frustgeplagt lustbetont in Abgründe - nach mir die Sintflut? Tage später höre und sehe ich den erschütternd von Aids gezeichneten Derek Jarman im Fernsehen die totale Verantwortungslosigkeit des Bildermachens predigen. Nein. Verantwortung wie Leben wirft man nicht weg. Vor Lustgewinn durch Aidstod Bürgerkriegstod Vergewaltigungstod sträubt sich unsere Vorstellungskraft. Das Leben ist komplex, Ronald Paris kennt diese Dialektik und steigert das Kunsterlebnis mit und zur Lust. Kein Gedanke daran, dabei Verantwortung wegzuwerfen. Wie ein roter Faden zieht sich durch dieses Malerleben etwas: Verantwortung Engagement Tätigwerden. Sechs Jahrzehnte bis zum heutigen Tag. Da es so ein schöner runder Geburtstag ist, kann ich, können wir getrost dazu gratulieren.

Galerie im Ermelerspeicher, Schwedt: Ronald Paris. Bis 12. September, Di-Do 10-12, 14-18, So 14-16 Uhr

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