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  • Politik
  • Potsdam schob Entscheid über Erdgas oder Kohle um 14 Tage auf

Lausitzer Kumpel mit Teilerfolg

  • Lesedauer: 3 Min.

Potsdam (ND-Huhn). Die brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam hat ihren Entscheid aufgeschoben, ob die Stadt künftig aus Braunkohle oder aus Erdgas mit Strom und Wärme versorgt wird. Endgültig soll darüber auf einer Sondersitzung des Stadtparlaments am 20. Oktober entschieden werden, gab Bürgermeister Horst Grämlich (SPD) am Mittwochnachmittag nach längeren Krisensitzungen vor rund 1000 wartenden Lausitzer Bergleuten bekannt.

Tausend Kumpel demonstrierten in Potsdam Foto: dpa/Schindler

Wer am Mittwoch ins Rathaus wollte, mußte am Eingang über sauber gestapelte Briketts steigen. Die Szene beherrschten gelbe Arbeitshelme der Lausitzer Braunkohle-Kumpel, die anreisten, um den Parlamentariern der Landeshauptstadt in letzter Stunde vor der Abstimmung, ob Potsdam künftig Erdgas oder Kohle nutzt, ihre Forderung kundzutun, sich für die Kohle und ihre Arbeitsplätze zu entscheiden.

Ein Vorkommando der Bergleute war bereits am spä-

ten Dienstagabend zu einer Mahnwache vor dem Rathaus eingetroffen, hatte Briketts in Kokskörben entzündet, um sich in der kühlen Nacht zu wärmen, und Signalhörner gestimmt. Von den Stadtoberen ließ sich da niemand sehen. SPD-Landeschef Steffen Reiche sicherte den Kumpeln die Unterstützung der Landesregierung zu, über die Haltung der SPD-geführten Stadtregierung wußte er nichts zu sagen.

Auch der PDS-Fraktionsvorsitzende und Oberbürgermeisterkandidat Rolf Kutzmutz erschien und wurde vom Bezirksleiter Lausitz der IG Bergbau und Energie, Ulrich Freese (SPD), eingeladen, den Standpunkt seiner Partei in einer nächtlichen Versammlung zu erläutern. Kutzmutz versicherte, daß die PDS-Fraktion gegen das Erdgasprojekt stimmen und den Ma-

gistrat auffordern werde, bis Anfang November eine neue, die Braunkohle berücksichtigende Variante vorzulegen.

Die Atmosphäre gewann Bischofferoder Couleur, als am Mittwochvormittag Polizei er-

schien, auf der Straße zum Rathaus gingen mobile Beobachter in Stellung, die Rathausflure wurden von zivilen Überwachern besetzt. Oberbürgermeister Horst Grämlich (SPD) berief für 10 Uhr eine Krisensitzung in seinem Büro ein - zusammen mit einer Delegation der Kumpel. Grämlich verwies nochmals darauf, daß er seit elf Monaten über die Kraftwerkslösung verhandele und sich von Land, VE AG und LAUBAG „verarscht“ fühle.

Freese unterbrach seinen Parteikollegen empört, erinnerte daran, daß Potsdam an allen Verhandlungen beteiligt gewesen war, von der Stadt aber nie Fragen oder Vorschläge gekommen wären. Kutzmutz wies Grämlich darauf hin, daß zwar seit elf Monaten verhandelt werde, die Abgeordneten aber nie exakt informiert wurden. Die Stadträtin für Umwelt, Naturschutz und Tourismus, Ute Platzeck (Neues Forum/Argus), betonte ihrerseits, der Magistrat stehe hinter dem Erdgasprojekt und werde alles dafür tun, daß es an diesem Tag beschlossen werde.

Als zunächst Freese vor dem Eingang des Rathauses die wartende Menge von den Ergebnissen der Sitzung unterrichtete, brach ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert aus. Eine fast sensationelle Wendung nahmen die Dinge, als dann Grämlich vor die Kumpel trat und sagte, er habe am Mittwochmorgen von der VEAG ein Fax „mit völlig neuen Zahlen“ bekommen. In dem Schreiben, das die VEAG von Lübbenau aus abgesandt hatte, sichert der ostdeutsche Stromversorger nochmals gleiche wirtschaftliche Bedingungen bei einer Kohlelösung zu. Neu war, daß der Stadt konkrete Preise von 3,5 Pfennigen je Kilowattstunde Wärme sowie von 9,5 Pfennigen je Kilowattstunde Strom angeboten wurden.

Mit der Mehrheit der 115 Abgeordneten beschloß das Stadtparlament am Nachmittag schließlich, den Entscheid aufzuschieben und dazu eine Sondersitzung am 20. Oktober abzuhalten. Die vor dem Haus wartenden Kumpel quittierten den Aufschub mit Pfiffen, sprachen am Ende aber von einem Teilerfolg.

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