nd-aktuell.de / 07.10.1993 / Politik / Seite 9

Bei Gericht den kürzeren gezogen

Dr. WOLFGANG SPICKERMANN

„Weltweit die erste blaue Zeitung... sie ist jetzt einzigartig.“ Mit diesen die Fachwelt verblüffenden Argumenten versucht das einstige Zentralorgan der Ost-CDU, die „Neue Zeit“, seit Anfang September einen medienpolitischen Kraftakt. Auf blauem Papier gedruckt, soll ihre seit langem stagnierende ^Vefkäufsä'ufTajge von ''-Wenig 1 “-Wehr > alS' ; 30 O0G JÄ Exemplaren verbessert werden. Der Gag von der blauesten Zeitung der Welt freilich hat den Charme und die Logik von einstigen Sprüchen wie „die größte DDR der Welt“.

Die in Berlin ansässige „Neue Zeit“ ist eine von drei überregionalen Tageszeitungen der DDR, welche die Wendezeit bis heute überstanden haben. Mit einem massiven

weroeauigeDot versucnt sie derzeit, vom letzten Platz der Auflagenliste herunterzukommen. Ihr aggressives Auftreten indessen hat ihr zwei Anträge auf einstweilige Verfügungen bei Gericht eingebracht. In beiden Fällen haben die Blattmacher aus Berlin inzwischen den kürzeren gezogen.

Seit Montag dieser Woche erscheint die Zeitung mit erneut verändertem Zeitungskopf. Die in Hamburg herausgegebene Wochenzeitung „Die Zeit“ rügte bei Gericht, daß mit ihrem traditionsreichen Blatt eine Verwechslungsgefahr herbeigeführt sei. Dagefen half auch nicht das Wehlagen der Berliner in einem redaktionellen Beitrag, sie hätten schließlich „ältere Rechte“, denn „Die Zeit“ sei erst 1946, die „Neue Zeit“ aber bereits 1945 ins Leben gerufen worden. Doch den Neu-Zeitlern bleibt der Trost,

phen hlanpr zn spin.

Und es bleibt ihnen die Genugtuung, wenigstens die seit der Neugestaltung verwendete Bodoni-Schrift für Titel und Schlagzeilen weiterverwenden zu dürfen. Entzückt stellte „Neue Zeif'-Chefredakteurin Monika Zimmermann unlängst den Schöpfer

ihres Zeitungslayouts vor, einen „Jünger Bodonis“, wie sie schwärmerisch ihren Beitrag titelte. Vor dreieinhalb Jahren hatte sie dem Werk des italienischen Schriftmalers Giambattista Bodoni (1740-1813) schon einmal Großes zugetraut. „Ob Bodoni die Herzen der-Massen erobert?“- überschrieb sie damals einen Beitra'g v der ^'Frankfurter^Allge^ meinen Zeitung“ über die inneren und äußeren Wandlungen des „Neuen Deutschland“. Die Bodoni-Schrift wurde damals von ihr als „Wunderwaffe“ in einem „verzweifelten Überlebensversuch“ ausgemacht. Man schrieb Februar 1990, die „Neue Zeit“ betrieb gerade CDU-Wahlkampf für die DDR-Volkskammerwahlen.

Inzwischen ist die „Neue Zeit“ wie andere, allerdings mangels Lesergunst bereits eingegangenen Zeitungen der Ost-CDU, Eigentum der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geworden. Die damalige FAZ-Korrespondentin ist heute „Neue Zeif'-Chefredakteurin und die Bodoni-Schrift erneut „Wunderwaffe“ Eine nicht pointenlose Geschichte für das deutsche Vereinigungs-Bilderbuch.

Ein weiteres Ärgernis bereitete der „Neuen Zeit“ ihre forsche, aber eben doch wahrheitswidrige Behauptung, „einzige unabhängige überregionale Tageszeitung der neuen Länder“ zu sein. Unterlassung dieser Formulierung forderte prompt der Verlag der „Jungen Welt“ (48 547 Exemplare Verkaufsauflage) - und gewann. Trotzig führt die einstige Jugendzeitung der DDR seither die Unterzeile „Die ostdeutsche Tageszeitung“ in ihrem Zeitungskopf. Was freilich auch nicht ganz stimmt. Denn mit 83 244 verkauften Exemplaren und 280 000 täglichen Leserinnen und Lesern ist „Neues Deutschland“ die mit Abstand größte überregionale Tageszeitung im und aus dem Osten.