nd-aktuell.de / 07.10.1993 / Kultur / Seite 12

„Katakombenstimmung“ bei Erbsensuppe

Im Stockholmer Frühherbst ist an Donnerstagen eine aufgekratzt wirkende Gruppe zumeist älterer Männer zu sehen, die aus der Börse in der Altstadt kommt und sich auf das Restaurant „Den Gyldne Freden“ zubewegt. Die illustre Versammlung mit dem vornehmen Namen Schwedische Akademie wird dann bei der traditionellen Erbsensuppe in der Regel das fortsetzen, was sie zuvor in weit formellerem Rahmen getan hat: Den Literatur-Nobelpreis auskungeln.

Daß der „Goldene Frieden“ zudem noch im Besitz der Nobelstiftung ist, paßt ins Bild angestammter Traditionen seit der ersten Vergabe der Auszeichnung an den inzwischen ziemlich vergessenen Franzosen Rene F A. Sully Prudhomme. Der Name des Restaurants ist aber beileibe keine Garantie für friedliche Einigungsprozesse bei der Vergabe des trotz aller Kritik immer noch begehrtesten Literaturpreises der Welt. Die Schriftstellerin Kerstin Ekman, die das Gremium 1989 wegen dessen Schweigen zur Verfolgung Salman Rushdies im Zorn zeitweise verließ, hat die Atmosphäre unter den achtzehn Mitgliedern mit zwei

bissigen Stichworten gekennzeichnet: „Rokokotheater“ bei den Zeremonien und „Katakombenstimmung“, wenn der Preisträger ausgehandelt wird.

Legion sind die offenbaren Fehlentscheidungen. Michail Scholochow erhielt den Preis 1965, obwohl die Akademie wußte, daß ein dicker Plagiats-Verdacht über dem „Stillen Don“, dem Hauptwerk des russischen Autors, hing. In der Begründung hieß es dann zu allem Überfluß auch noch, der Schriftsteller werde für seine „künstlerische Kraft und Ehrlichkeit“ geehrt. Andererseits blieben so bedeutende Schriftsteller wie Tolstoi oder die Skandinavier Strindberg und Ibsen unberücksichtigt.

Zum „Dauerbrenner“ unter Kritikern der stark konservativ orientierten Akademie-Entscheidungen wurde Graham Greene. Die Spatzen pfiffen es von Stockholms Dächern, daß der englische Romancier den Preis bis zu seinem Tode im April 1991 nur deshalb nicht erhalten hat, weil ein Akademiemitglied namens Artur Lundkvist sich Jahr für Jahr mit aller Macht dagegen sträubte. Ironie des Schicksals oder nicht, Ende

1991 starb auch Lundkvist. In der innerschwedischen Literaturdebatte hatte er sich zu Lebzeiten unter anderem mit der Meinung hervorgetan, Kinderbücher seien „sinnlos“.

Vorlieben und Antipathien einzelner Stimmberechtigter brachten in den letzten Jahren auch noch den häßlichen Verdacht auf, Akadamiemitglieder entschieden nicht ganz frei von eigenen Geldinteressen. So galt 1989 der schwedische Übersetzer von Camilo Jose Cela, Knut Ahnlund, als treibende Kraft hinter der Vergabe an den Spanier.

Inzwischen ist die Akademie dabei, wenn auch mit vergleichsweise bescheidenen Fortschritten, die beiden immer wieder vorgebrachten Kritikpunkte Überalterung und Männerdominanz anzugehen. 1988 saßen 16 Männern nur zwei Frauen gegenüber, heute lautet das Geschlechterverhältnis 15 zu 3. Und war damals das jüngste Akademiemitglied 54 Jahre alt, gibt es heute schon eine 40jährige. Dafür ist der älteste der auf Lebenszeit bestimmten Juroren inzwischen 88 Jahre alt, und das Durchschnittsalter beträgt immerhin 68 Jahre.

THOMAS BORCHERT, dpa