nd-aktuell.de / 07.10.1993 / Brandenburg / Seite 18

Zwischen Stempeln, Familie und Dönerbude

Bei dem Stichwort Ausländer fällt einem heute als erstes Solingen, Asylstopp oder organisierte Kriminalität ein. Daß ein Großteil der in Deutschland lebenden Nicht-Deutschen genauso mit den anderen sozialen Problemen in diesem Land konfrontiert wird, gerät in den Hintergrund. Mit einer Diskussion zur „Situation nicht-deutscher Berlinerinnen und Berliner auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt“ wollte der DGB Landesverband Berlin-Brandenburg am Dienstag abend diesem Mangel abhelfen.

25 824 arbeitslos gemeldete Ausländer im Westteil der Stadt, ein in den vergangenen drei Jahren von 16,6% auf 21,7% überproportional gestiegener Ausländeranteil an der Gesamtzahl der Erwerbslosen - Bernd Rißmann vom

DGB-Landesvorstand nannte in seiner Einleitungsrede nur wenige Zahlen, die aber vorstellbar machten, wie der steigende Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt auf die Anstellung von Nicht-Deutschen wirkt. Alles auf Grundlage des Arbeitsförderungsgesetzes, das vorschreibt, freie Arbeitsplätze vorrangig an deutsche Bewerber, in zweiter Linie an EG-Ausländer und erst dann an andere Nicht-Deutsche zu vergeben.

Diese Beschränkung mag zwar vielen Deutschen die Angst nehmen, Ausländer nähmen ihnen die Stellen weg, trifft aber diejenigen am härtesten, die die schwächste Lobby haben: die ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam, Angola und Mocambique, die bis Mitte Dezember einen gesicherten Lebensun-

terhalt vorweisen müssen, um überhaupt bleiben zu dürfen.

An- und ungelernte Arbeitnehmer müssen sich die Bedingungen oft diktieren lassen. Unter den Ausländern betrifft das auch zunehmend wieder die jüngeren: Zum einen sind es Mädchen aus vorwiegend islamischen Familien, die von ihren Eltern im Haus behalten werden, um dort Familienpflichten zu erfüllen. Zum anderen lassen Jugendliche aller Nationalitäten und beiderlei Geschlechts nicht aus Faulheit oder Desinteresse ihre Ausbildung schleifen, sondern weil ihnen die Perpektive fehlt: Wozu einen Abschluß und eine Ausbildung, wenn es keine Arbeitsplätze gibt?

Wenig Probleme gibt es in den Betrieben, in denen man sich aneinander gewöhnt hat.

„Bedroht gefühlt habe ich mich da noch nie“, meinte Ismail Özglü und hebt hervor, daß ausländische Arbeitnehmer auch stark im Betriebsrat vertreten sind - wie sich überhaupt im Westteil Berlins sehr viele Ausländer in der Interessenvertretung organisieren.

Einig waren sich auf der Veranstaltung Gewerkschaftler und die anwesende Politikerin, Staatssekretärin Helga Korthaase, darin, daß nur die Anerkennung einer doppelten Staatsbürgerschaft und das Kommunalwahlrecht für Nicht-Deutsche Voraussetzungen schaffen können, Grundlegendes zu verändern. Schwieriger wurde es bei den konkreten Maßnahmen des Senats: Das bestehende Arbeitsförderungsprogramm reicht bestenfalls zur Mängelverwaltung, die Brückenfunk-

tion der ABM und des zweiten Arbeitsmarktes bleiben fraglich, ebenso der Nutzen einer Quotierung im Öffentlichen Dienst. „Es gibt kein Konzept zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit, weil in diesem Land keine Wirtschaftspolitik stattfindet“, meinte Siegfried Masson von der IG Metall und folgerte, daß es irgendwann jedem an den Kragen ginge, Ausländern wie Deutschen.

Manche haben aus dieser Erkenntnis längst die Konsequenz gezogen und sich aus den Lohnabhängigkeiten auf eine Weise befreit, die Helga Korthaase rühmend „Existenzgründung ohne viel Kapital“, Öcem Özcdemir aus Kreuzberg aber „ein Zeichen unserer Hoffnungslosigkeit für die deutsche Wirtschaft“ nannten: Sie machten Dönerbudenauf. BEATE WILLMS