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  • Brandenburg
  • ND-Serie: Berlin, wie es im Buche steht /Von „gehemmtem Fortschritt“ und „gezügeitem Rückschritt“ am Lustgarten

Bürgermeister Tschech in seinem großen Pech

  • Lesedauer: 5 Min.

Aber keiner war so frech, / wie der Bür-, , germeister Tschech, /denn er traf auf ein Haar/Unser treues Königspaar. / Ja, er traf die Landesmutter / durch den Rock ins Unterfutter.“

Mit diesem kaum verhüllten Bedauern, daß es nicht geklappt hatte, geht es 8 Strophen, die letzte:

„Hatte wohl je ein Mensch so'n Pech/Wie der Bürgermeister Tschech, / daß er diesen dicken Mann/auf 2 Schritt nicht treffen kann.“

Heinrich Ludwig Tschech, geboren 1789 in Klein-Kniegnitz in Schlesien, studierte Jura, lebte dann wieder im Berliner Elternhaus, ein musischer, belesener und träumerischer Mann, Assessor beim Eichamt, Mitglied der Armenkommission, Leutnant der Landwehr. Wegen seiner kränkelnden Frau mußte er hinaus in die Waldluft und bewarb sich um die freie Stelle des Storkower Bürgermeisters. Dort geriet er in die märkische Mafia seiner Zeit, ließ sich nicht bestechen oder beugen, wurde mit

„Kaltmachen“ oder „Rotem Hahn“ bedroht. Man betrog ihn gemein: Wegen einer Holzgeschichte wurde prozessiert, er erhielt 12 Tage Haft, wurde aus dem Amt gedrängt. Tschech zog, nun Witwer, in eine kleine Wohnung nach Berlin, kämpfte um allgemeine und persönliche Gerechtigkeit, bat um Wiederanstellung. Von Behörden und Ministern erntete er nur Hohn und Spott: König Wilhelm W schrieb: „Es bleibt bei abschlägigem Bescheide.“

26 .6.1844. Tschech hat am Vortag angesehen, wie der aus dem Schloß fahrende König eine schwarzgekleidete Frau, die eine Bittschrift übergeben will, äußerst schoflich behandelt. Am nächsten Morgen geschieht dasselbe, da zieht Tschech ein Doppelterzerol und schießt auf den König ohne ihn und die neben ihm sitzende Königin zu treffen.

Man wittert ein weitverzweigtes Komplott, alle Post wird an diesem Tag in Berlin angehalten und erbrochen. Auch die ältere Tochter Tschechs, die man für die ver-

kleidete schwarzgekleidete Dame hält, wird verhaftet.

Berlin lacht. Berlin glaubt, daß man den Tschech nicht zu. hart anpacken wird: Königin Victoria von England und König Louis Philipp von Frankreich, beide gerade Attentaten entgangen, zeigten sich milde. Anders in Preußen: Besonders der später berüchtigte „Kartätschenprinz“, später Kaiser Wilhelm I., von der Legende zum gemütlichen Opa stilisiert und gerade wieder in Koblenz als Bronzeheld aufgehievt, fordert Tschechs Tod. Bettina von Arnim, die für Tschech beim König um Gnade bitten will, wird nicht vorgelassen. Am 14. 12. richtet man ihn hin. Seine letzten Worte gehen im Trommelwirbel unter. Fassungslos liest der liberale Autor Varnhagen v Ense den Anschlag: Daß „die Strafe des Räderns (1844 ! G.H.-B.) in die des Beiles gemildert“ worden sei. Und Tschech „heute in Spandau die Strafe erlitten“ habe.

Varnhagen notiert: „Schnelligkeit und Heimlich-

keit macht den übelsten Eindruck... Häßlich für Preußen. Ein umfangreiches Manuskript Tschechs mit der Darstellung seiner letzten 10 Jahre, seines Denkens und Handelns, wird von der Tochter an den Verlag Brockhaus gegeben, der es sofort der Polizei ausliefert; unter Druck übergibt ein Bruder Tschechs auch die Kopie. Seitdem sind die Schriften verschwunden.

Lu Märten veröffentlichte 1948 aus Anlaß der lOOsten Wiederkehr der Revolution im Altberliner Verlag das Büchlein „Bürgermeister Tsehech und seine Tochter, Erinnerungen an den Vormärz“ Denn die Tochter muß auch ihren Leidensweg gehen: Die Familie eines „Hochverräters“ konnte im Preußen ohne weiteres lebenslänglich inhaftiert oder ausgewiesen werden. Die völlig Unschuldige blieb in Haft, dann verbannte man sie fast ohne Habe und mittellos in ein Pfarrhaus nach Westfalen, unter steter Kontrolle. Ihr gelang die Flucht in die Schweiz, nach Frankreich. Sie wollte zu Herwegh.

Lu Märten kommt zum naheliegenden Vergleich mit Michael Kohlhaas und verhehlt nicht Sympathie und Mitleid für Tschech. „Eine vergessene Gestalt“ nennt sie ihn. 1879 in einer Berliner Beamtenfamilie geboren, machte sie sich früh selbständig, wohnte als „Schriftstellerin“, wie sie ins Adreßbuch setzen ließ, in der Steglitzer Albrechtsraße 72 a. Mit ungeheurem Fleiß und großer Begabung schrieb sie Gedichte, Theaterstücke, Rezensionen, Essays für viele Zeitschriften und Zeitungen. Ihre Stärke lag in der publizistischen Arbeit und im theoretischen Bereich; sie brachte früh eigenständige, undogmatische Gedanken in die marxistische Ästhetik ein.

Während der Nazizeit arbeitete Lu Märten illegal, unterstützte die Schriftstellerin Recha Rothschild, die bei der Deportation aus Frankreich hatte fliehen können. Nach 1945 sahen wir sie oft, vor allem im Berliner Kulturbund, eine kluge, freundliche, alte Genossin. Ein Auswahlband ihrer Arbeiten erschien 1982 im Verlag der Kunst Dresden.

Es wäre eine Schande, sie zur „vergessenen Gestalt“ werden zu lassen!

Jeder alte Stadtführer erwähnt rühmend die beiden Rossebändiger auf der Terrasse des Schlosses zum Lustgarten hin. Der Bildhauer Clodt hatte sie geschaffen, Zar Nikolaus machte sie König Wilhelm IV. zum Geschenk. Der unermüdliche Berliner Witz nannte die beiden den „gehemmten Fortschritt“ und den „gezügelten Rückschritt“. Was weder Zar noch König wußten: Clodt war mit Tschech befreundet gewesen und hatte dessen Gestalt und Gesicht zum Modell genommen. So fuhren die Hohenzollern, solange sie durften, immer wieder an Tschech - und gleich in doppelter Ausführung - vorbei. Die Plastiken wurden im Krieg zerstört. Man sage nicht, die Historie verfüge über keinen eigenen Humor

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