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  • Brandenburg
  • Verbrechen in Brandenburg - Was die Statistik verrät und dabei verschweigt

Die Kripo sieht kaum noch einen Tatort

  • Lesedauer: 3 Min.

Das Verbrechen im Land Brandenburg wächst rasant an, mehr als anderswo. Aus dem Innenministerium verlautete jüngst, es handele sich um eine Steigerung um 16 % im ersten Halbjahr 1993, der Bund der Kriminalbeamten gibt allerdings rund 39 % an. ND sprach mit Landesvorsitzenden, WOLFGANG BAUCH. Was verraten und was verschweigen uns solche Zahlen?

Die Polizei-Statistik spiegelt nur die tatsächlich erfaßten Straftaten wider. Folglich ist die Erforschung des Dunkelfeldes wesentlich hilfreicher. Bei einer jüngst erstellten Opferbefragung wurde deutlich, daß 90 % der Bürger bei einfachem Diebstahl auf Anzeigen verzichten, bei schwererem 45 %, bei Körperverletzung 85 %.

Weshalb denn das?

Weil der Schaden gering ist, Strafverfolgung als ineffektiv angesehen wird. Bei Diebstahl erstatten wiederum 43 % Anzeige, weil sie Schadenersatz von der Versicherung und lediglich 8 %, weil sie den Täter bestraft haben wollen. Das Wertegefüge scheint gestört zu sein.

Wie kommt es nun zu den unterschiedlichen Zahlen?

Interpretieren ist menschlich. Und es gehört zum Job des Innenministers, Kriminalitätsentwicklung positiv dar-

zustellen. Das ist sicher auch legitim. Wir hätten in den ersten sechs Monaten 1992 genau 91 416 Straftaten, im gleichen Zeitraum dieses Jahres 127 347. Beide Zahlen sind unbestritten. Das macht einen Anstieg um gut 39 % aus - reine Mathematik.

Wie sind die 16 % zu erklären?

Der Minister verglich die Kriminalität 1993 mit der monatlichen Durchschnittsbelastung des Vorjahres. Da sie in der zweiten Hälfte 1992 deutlich weiter angestiegen ist, senkt das die Prozentzahlen 1993. Ein rein rechnerischer Kniff. Es wäre klüger, Tatsachen ins Auge zu schauen.

Und welche sehen Sie da?

Das Verbrechen ist ein Indikator für gesellschaftliche Mißstände. Und in Brandenburg gibt es ja genug wirtschaftliche und soziale Turbulenzen, auch in Osteuropa, woher wir ja auch Kriminalität importieren. Bei einer Stabilisierung würde sie zwar noch genug, aber durchaus weniger Probleme bereiten.

Manches scheint mir auch hausgemacht.

Natürlich. Wenn Sie dabei erwischt werden, bei Rot über die Kreuzung gefahren zu sein, wird das sofort geahndet. Bei Straftaten erst viel später, wenn überhaupt. Und dann ist der Effekt weg. Dreiviertel der Anzeigen werden überhaupt nicht bearbeitet.

Härter zu strafen, das drängt Kriminalität nicht zurück.

In den USA sitzen prozentual viel mehr Leute hinter Gittern als hierzulande. Weniger Verbrechen bringt das nicht, weil Gefängnisse kein Heilbad sind und wieder Kriminelle produzieren. Auch so gesehen ist die Justiz überfordert.

Die Polizei aber ebenfalls.

Das hängt mit Strukturen und Überlastung zusammen. Die Kripo hat keine Zeit zu ermitteln, vor allem bei Eigentumsdelikten, die 70 % der Straftaten ausmachen. Vielmehr ist sie dazu gezwungen zu stempeln, zu lochen und zu heften. Der Dienst rund um die Uhr wurde abgeschafft. Außerhalb der normalen Arbeitszeit ist theoretisch kein Kriminalist mehr im Einsatz. Sämtliche Delikte werden dann von der Schutzpolizei aufgenommen. Geschieht ein

Verkehrsunfall, bleibt der Einbruch liegen. Außer bei Kapitalverbrechen bekommt die Kripo den Tatort kaum noch zu sehen. Und so schließt sich der Kreis - es fehlt an Beweismitteln. Dies alles nenne ich staatlich geduldete Strafvereitelung.

Wo aber hegt der Ausweg?

Die Verbrechensbekämpfung sollte wieder Handwerk werden. Auch dadurch, daß man Kriminalisten ausbildet, wie gehabt, und nicht Allerweltspolizisten, die zu nichts taugen. Zu überlegen wäre, wie man die Schutzpolizei effektiver einsetzt.

Mehr Uniformen auf die Stra-ße, bringt das nichts?

Einer Studie zufolge wurde in einer Stadt bei 400 Wohnungseinbrüchen kein einziger Täter von Streifenbeamten gestellt. Und anderswo nahm trotz erheblich verstärkter uniformierter Fußstreifen der Diebstahl aus Autos um 18 % zu. Es kommt also augenscheinlich darauf an, den Schwerpunkt auf Fahndung zu setzen. Auch Informationsflüsse sollten unvoreingenommen untersucht werden. Oft weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut.

Gespräch: RAINER FUNKE

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