nd-aktuell.de / 14.11.2003 / Wirtschaft und Umwelt

Kein Dach überm Kopf - darum "Querkopf"

Mitmachblatt für Leute mit viel Ideen und wenig Geld

Andreas Fritsche
Helga verkaufte 22 Jahre lang Schreibwaren am Walter-Schreiber-Platz in Berlin-Steglitz. Jetzt fährt die mittlerweile 67-Jährige mit ihrem Rollstuhl abwechselnd zum Hackeschen Markt oder zum Nollendorfplatz und bietet dort die Obdachlosenzeitung »Querkopf« an. Helga leidet an einer spastischen Lähmung. 17-mal ist sie in ihrem Leben operiert worden.
Auch wenn viele der Redakteure es nicht wahrhaben wollen - Passanten erwerben Obdachlosenmagazine in aller Regel aus Mitleid. Die Verkäufer sind oft erbarmungswürdige Gestalten, denen das Leben übel mitgespielt hat. Mit ihrer Ware ziehen sie durch S- und U-Bahnen oder stehen an Straßenecken. Wer bei ihnen kauft, sorgt dafür, dass sie ein paar Cent in die Tasche bekommen. Darum geht es.
Anders lief es nur am 1. November. Da erschienen etliche Straßenzeitungen mit einem Vorabdruck der deutschen Fassung von Joanne K. Rowlings Roman »Harry Potter und der Orden des Phönix«. Diesen Knüller bescherte der Carlsen Verlag Obdachlosenmagazinen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Auf Knüller kommt es im »Querkopf« nicht an. Die überregional-kritische "Arbeits-Obdachlosen-Selbsthilfe-Mitmachzeitung" - wie die Herausgeber ihre Zeitung nennen - verfolgt ein anderes Konzept. Schreiben soll jeder, der etwas zu sagen hat. Ob er es besonders gut kann, spielt dabei keine Rolle.

Rheinische Mundart beim Querkopf
Da berichtet also »Querkopf-Helga« über ihr Leben und lobt Werner. Gemeint ist Werner Schneidewind - ein Mensch, der 25 Jahre in Köln lebte und den dort üblichen Akzent nicht mehr loswird. Selbst wenn er seinen Kater »Charly« ruft, klingt die rheinische Mundart durch. Schneidewind bemüht sich seit zweieinhalb Jahren darum, mit »Querkopf« ein weiteres Obdachlosenmagazin in der Bundeshauptstadt zu etablieren. Drei bis vier andere gibt es schon.
»Bevor sie mir in Köln ein Denkmal setzten, mache ich was neues in Berlin«, scherzt Schneidewind über die Gründe für seinen Umzug. Der Anfang war nicht leicht. Immerhin kostet das winzige Ladenbüro in der Neuköllner Blücherstraße 100 Euro im Monat. Die Unfallrente bringt nicht viel ein, weil die Finger »nur« an der linken Hand fehlen. Anfangs schlief Schneidewind auf einer Pritsche im Keller. Jetzt übernimmt das Sozialamt die Miete für eine Wohnung. Immer mal wieder jedoch schnappt sich der Aktivist einen Schlafsack und macht ein paar Tage "Platte", um zu sehen, wie es Obdachlosen ergeht.
Der Aktivist ist »Baujahr 51«, wie er selbst sagt, geboren als eines von sieben Geschwistern in einem Dorf bei Bielefeld. Die allein erziehende Mutter wollte möglichst schnell Kostgeld. Darum fiel eine Berufsausbildung flach. Werner Schneidewind ging direkt von der Schulbank als Hilfsarbeiter erst in eine Schuhfabrik, dann in eine Ziegelei und zuletzt in eine Schreinerei. In der Schreinerei stellte er Stuhlbeine her und klemmte sich mit 18 Jahren an einer Holzfräse die linke Hand ein. Schneidewind verlor zwei Finger, einer blieb steif. Ein halbes Jahr musste der junge Mann ins Krankenhaus. Da lag er nun im Bett und grübelte. Nie wieder für einen Chef arbeiten, der davon reicher wird als er selbst, dachte er sich. Schneidewind verübte Einbrüche und kam dafür mehrmals in den Knast. Dann bastelte und verkaufte er Schmuck aus Silberdraht. Acht Jahre bemalte er mit Kreide das Pflaster in Köln, und lebte von den Spenden für Porträts und das Abbild der Fernsehfigur Alf. Zeitweise wohnte er beim Verein Sozialistische Selbsthilfe Köln. »Das prägte mein Weltbild.«
Schließlich der »Querkopf«. Alles begann, weil die Kölner Obdachlosenzeitung »Von unge« (von unten) unregelmäßig erschien. Die Verkäufer quälte die Sorge, wie sie ihren Unterhalt bestreiten sollen. Da gründete Klaus Bergmayer 1998 mit Gleichgesinnten den »Querkopf« in Köln. Hinter dem Projekt steht ein Verein mit rund 30 Mitgliedern, die zumeist sozial engagierte Rentner sind. In der Rheinmetropole verkaufen 30 bis 40 Leute die Zeitung, in Berlin sind es fünf bis zehn. Eine Ausdehnung nach Bremen und Heidelberg ist inzwischen angepeilt. Im »Querkopf« gibt es keine bezahlten Anzeigen. Aber der Musikclub Kaloni in der Berliner Gneisenaustraße be-kommt aus Freundschaft Platz, um für sich zu werben. Immer sonntags gibt es in dem Club umsonst afrikanisches Essen. In einem Viertel, in dem viele arme Menschen leben, eine tolle Sache, meint Schneidewind.
"Querkopf" erscheint in einer Auflage von mehreren tausend Exemplaren und berichtet nicht. Die Zeitung ist eine Mitmachzeitung und füllt sich, indem sich Initiativen selbst vorstellen. Der "Querkopf" kostet 1,50 Euro. 75 Cent bekommt der Verkäufer. Auch Werner Schneidewind zieht abends durch die Kneipen und preist das Blatt an.

Informationen: Querkopf e.V., Sülzburgstr. 76 in Köln, Tel.: (0221)7405274, oder
Blücherstr. 37 in Berlin,
Tel.: (030)69503211,
Spenden-Konto: 588810003, Kölner Bank, BLZ: 37160087