Erinnerung ohne Erfahrung?

Die Geschichte in der Gegenwart: neuer Zugang und bleibende Wahrheiten

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Möllemann, Hohmann, die Degussa-Affäre, Debatten um ein Vertriebenen-Zentrum, Fragen von Israel-Kritik und neuem Antisemitismus - das alles nährt die Wahrheit eines Satzes von Martin Walser: »Seit Auschwitz ist noch kein einziger Tag vergangen.« Das Schreckliche geschah in einem anderen Jahrhundert. Diese Formulierung darf hier getrost nach Vorvergangenheit klingen, um zunächst einmal einen sicheren Abstand zu den seit Hitlers Ende eingetretenen politischen Bedingungen in Deutschland und Europa zu kennzeichnen. Dennoch: Mitten in der gestandenen Demokratie scheint die Angst der Überlebenden - momentan geschürt auch durch oben genannte Indizien - wieder überdeutlich groß zu sein. So groß, dass man diese Angst auf den ersten, flüchtigen Blick in Widerspruch setzen möchte zur Realität, an der sie sich entzündet. Woher diese offene Nervenlage, woher diese hoch konzentrierte Sorge? Die sich im Zweifelsfalle lieber vehement ausdrückt und also vor dem allzeit möglichen Vierten Reich warnt, als dass sie sich übertönen ließe von Beteuerungen, alles sei doch gut, und die Lehren der Geschichte seien ein allgemein anerkanntes Handlungsgebot. Diese Angst der Überlebenden und ihrer politischen, gesellschaftlichen Anwälte ist nicht nur der höchst notwendige Reflex auf täglich zu erlebenden Rassenhass. Ist nicht nur der unbequeme Hinweis auf Unverschämtheiten (oder auch nur Ungeschicktheiten) bei der Geschichtsbetrachtung. Ist nicht nur die im besten Sinne unermüdliche Entgegnung auf unverblümte oder verbrämte Hetze in Politikerreden. Nein, sie hat auch zu tun mit der wachsenden Verzweiflung der Überlebenden darüber, dass in Sachen Holocaust Zeugenschaft und Erfahrungsbeweis endigen. Die Zahl derjenigen, die mit ihrem Leben für Auschwitz stehen, nimmt immer mehr ab. Nicht nur einzelne Menschen sterben da, verloren geht ein Generationszusammenhang, und das Los jedes Generationszusammenhangs besteht darin, dass er nur in einem zeitlich begrenzten Abschnitt gestaltend, wertend in den Geschichtsprozess eingreifen kann. Daraus entsteht die Notwendigkeit des Übertragens und Überleitens von Erkenntnis und Erfahrungsmaterial in eine neue Ära. Kultur, zu der wesentlich die Erinnerungskultur gehört, wird somit irgendwann fortgebildet von Menschen, die einen neuen Zugang zum akkumulierten Kulturgut haben. Neuer Zugang! Das genau löst Ängste aus, weil jeder neue Zugang zu einem geschichtlichen Ereignis natürlich eine neuartige Distanzierung einschließt, einen andersartigen Ansatz bei Aneignung, Verarbeitung und Fortführung des Vorhandenen. Das Vergängliche, stets Bedrohte jeder gesammelten Wahrheit stört den Fortschrittsgedanken an seiner empfindlichsten Stelle: bei der Hoffnung und dem Wunsch, das einmal als richtig Erkannte, das einmal als erreicht Geltende sei als Errungenschaft unumkehrbar und dingfest und müsse nicht wieder als neue ungesicherte Erfahrung durchs Lebensfeuer der nächsten Generation. Mehr als berechtigt ist da jene Furcht der Nazi-Opfer davor, unter besagter neuer Aneignung könne Bagatellisierung verstanden werden, unter neuer Verarbeitung nur Leugnung, und neue Tat bestünde vor allem in fataler Umdeutung aller mahnenden Erkenntnis. Vergessen ist eine Gnade, die den Überlebenden von Shoah und Faschismus nicht gewährt wurde, sie darf uns Nachkommenden nicht zur gefährlichen Verführung werden - im Umgang mit etwas, das wir nicht erlebt haben. Immer stärker verlagert sich, um in Deutschland zu bleiben, alle Meinungsbildung über die Welt auf Menschen, die am eigenen Leibe nie einen Krieg erfuhren. An der beschwörenden Art, wie in politischer Mahnrede heute darauf verwiesen wird, dass der Balkan »vor der Haustür« und Tschetschenien »mitten in Europa« lägen - es kennzeichnet die Ohnmacht, eine gewisse Erfahrungslosigkeit wenigstens rhetorisch zu überwinden. Zwecklos. Mehr und mehr Köpfe denken auf unversehrten Körpern. Das hat Einfluss aufs Denken. Das Denken wird damit schwieriger, weil es freier wird. Es wird unbefangener, und das ist immer auch eine Einladung zur Leichtfertigkeit. Es ist zudem das Problem einer Welt, die Fernsehzuschauern suggeriert, man könne heute vielfältigste Erfahrungen machen, indem man einfach nur geschickt zappt. Die komplizierte Aufgabe besteht darin, wachsam zu bleiben - aus einer bitteren geschichtlichen Erfahrung heraus, die andere gemacht haben. Vor wenigen Tagen schrieb der Soziologe Ulrich Beck in der »Süddeutschen Zeitung«, das Problem etwa der europäischen Israel-Kritik bestünde darin, dass man in Europa »anders als in Israel nicht - bildlich gesprochen - mit einem Linienbusticket in der Tasche« argumentiert. So wie wir dieses Ticket für Haifa nicht in der Tasche haben, so wachsen uns auch die »globalisierten Emotionen« (Beck) von Krieg und Terror nur aus den Medien zu, und nur noch wenige tragen Häftlingsnummern am Arm. Die Lösung ist nun nicht, sich das Unmenschliche herbeizuwünschen, damit aus erlebtem Schrecken das Menschliche umso widerstandsfähiger wachse. Aber es ist, so Friedrich Schorlemmer, nicht die Gnade später Geburt, die uns (Deutsche) aus persönlicher Haftung befreit, sondern geradezu das Risiko dieser späten Geburt, nämlich als Nachgeborene die Lehren anzunehmen oder zu vergessen, die andere aus eigenem Leid gewannen« (1995). Es hilft da neben Aufklärung vor allem Herzensbildung. Wenn die zur Erfahrung wird, ist viel gewonnen, wo andere Erfahrung glücklicherweise fehlt. Herzensbildung hat ein Endprodukt, das Thomas Mann formulierte und das er »die Bereitschaft zur Selbstvereinigung« mit dem scheinbar Hassenswerten bezeichnete. Er meinte damit auch, dass Sorgfalt in geschichtlicher Betrachtung dort wächst, wo man sich selber in die Möglichkeit einschließe, verführbar zu sein fürs Grässlichste. Der Aufsatz, in dem Thomas Mann dies schrieb, hieß »Bruder Hitler«. Jahrzehnte später schrieb Heinar Kipphardt »Bruder Eichmann«. Wo einer sich selber solche Antennen ausfährt, ist er mitten in der wichtigsten Erfahrung, die darauf aus ist, unerlebte Geschichte nicht wieder zur möglichen Geschichte werden zu lassen. Die beste Art, Geschichte zu machen: so zu leben, dass man bestimmten bösen Erfahrungen unbedingt vorbaut, die man mit sich machen würde, wenn die Umstände nur ein Quäntchen ungünstiger, heilversprechender wären. Das ist die Qualität und das Kreuz einer offenen Gesellschaft: Sie hat Zukunft nur mit Geschichte als offener Wunde. Man mag - leicht möglich, schnell getan - eine noch so lange Liste von Verfehlungen dieser Bundesrepublik in Fragen einer gesellschaftlichen Humanisierung nach Auschwitz erstellen; oft genug wurde auch hier zu Lande geschäftig und sehr geschäftlich ein Gewissen demonstriert, das gar nicht vorhanden war, und eine linke KPD hat man flinker verboten, als man eine NPD zu verbieten gewillt ist. Kennzeichnend aber bleibt, wenn man sich den Ausgangspunkt 1945 betrachtet: Just die Tatsache einer ständig offenen ständigen Auseinandersetzung war es, die eine unerträgliche Nation erfolgreich umerzog. Es ist doch unzweifelhaft kein Zufall, dass die Erinnerungen des deutschen Juden Paul Spiegel, 2002 erschienen, den Titel »Wieder zu Hause« tragen. Auf dem Titelbild lächelt er, ein wenig auch ironisch, so scheints, aber er lächelt. Offenheit freilich ist in ihrem Bekenntnis zur hohen Hürde des individuellen Meinungsrechts nicht ohne Irrtum und ohne Rückschlag, nicht ohne schreckliche Eruptionen und schon gar nicht ohne Streit zu haben. Im Chor gibt es keine Tonart, um über Geschichte zu sprechen. Aber, wie der Fall Hohmann zeigte, gibt es Normen der gesellschaftlichen Übereinkunft, gibt es eingeschriebene Rechtsprinzipien - vertrackter Weise nun ist es Normen eigen, sich oft erst in der Überschreitung als Wert zu offenbaren. So wie mitunter erst die verletzte Liebe und das zerbrochene Ideal den Wert des Verlorenen deutlich machen. Ein Teufelskreis: zwischen dem gesellschaftlich zu pflegenden Bedürfnis, sensible Themen unverstellt zu debattieren - und andererseits der Rücksicht auf jene Opfer, die vor dieser Unverstelltheit (noch immer) Angst haben. Ist dieses Recht auf Angst im öffentlichen Raum höher zu bewerten als das Recht auf offenste Diskussion? Das ist die Frage, die man immer mit »Ja« beantworten möchte. Solange man sie mit »...

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