Letztes Kapitel

Zwei Bücher »Über den Tod«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Der Tod bleibt der Skandal allen Lebens.
Urs Widmer

Wir leben im Zeitalter des Schleife laufenden Videos. Das verändert unser Denken grundlegend. Alles scheint wiederholbar geworden. Was uns jetzt entgeht, das holen wir eben beim nächsten Mal nach. Bei diesem Konzert kann ich nicht dabei sein? Wahrscheinlich gibt es eine Fernsehaufzeichnung oder wenigstens eine CD. Wir glauben nicht mehr an besondere Momente und an Einmaligkeiten, die etwas Endgültiges haben. Nur der Tod ist noch endgültig - und für den Einzelnen nicht wiederholbar. Er ist etwas Besonderes. Der Tod scheint inmitten einer massenkulturellen Zerstreuungsindustrie der letzte Ort geworden zu sein, von wo aus die Verletzlichkeit des Lebens noch erfahrbar wird. Zwei Bücher sind nun zu dieser Thematik erschienen: »Über den Tod« heißen sie seltsamerweise beide - und könnten doch verschiedener nicht sein.
»Über den Tod« zum ersten: Elias Canetti hat ein Leben lang über den Tod nachgedacht. Und nun sind diese Überlegungen, mit einem Nachwort von Thomas Macho versehen, im Carl Hanser Verlag versammelt worden. Canetti ist ein leidenschaftlicher Denker. Wenn es etwas Kränkendes gibt für einen Menschen, dann, dass er sterben wird. Darum hat der Mensch allen Grund, den Tod zu hassen, der ihm das Leben nimmt, ihn als Person auslöscht. Der Tod ist unser Feind, wir dürfen ihn nicht akzeptieren, sondern müssen so lange gegen ihn ankämpfen, wie unsere Kräfte ausreichen. Wir müssen sehr alt werden wollen! Der Hass auf den Tod hat bei Canetti einen traumatischen Grund. Als er sieben Jahre alt war, starb sein Vater plötzlich, mit einunddreißig Jahren. Nach einem Streit mit der Mutter, am Tag, nachdem sie von einer langen Kur zurückgekehrt war. Auf der hatte sie (wie der Vater vermutete) mit einem Arzt eine Affäre gehabt. Seinen Vater liebte das Kind, seine Mutter nicht. Nun nahm ihm der Tod gerade den Vater.
Sein ganzes Leben lang hat Canetti versucht, diesen Tod zu verstehen, hat seine Mutter später immer wieder nach Einzelheiten gefragt - und hat es nicht akzeptieren können. Dieser Tod blieb sein Feind. 1946 sagt er: »Mein Haß gegen den Tod setzt ein unaufhörliches Bewußtsein von ihm voraus; es wundert mich, wie ich so leben kann.« Aus diesem Hass hat Canetti Lebenskraft bezogen. Aber vielleicht hat diese dauernde Beschäftigung mit dem Tod ihm diesen auch vertrauter gemacht, als er zugeben wollte. Die plakative Ablehnung jeglicher Versuche, Leben und Tod in eine Einheit zu bringen, lässt bei Canetti jeden Tod wie einen Unglücksfall, oder schlimmer noch, wie einen Mord erscheinen. Gegen die Rede vom lebenserhaltenden Tod (die Gattung, die ohne das Sterben der Einzelnen sich nicht erneuern könnte) rebellierte er mit allen Fasern seines Ichs. Es gibt keinen glücklichen Tod. Canettis Radikalismus ist mehr als nur provokativ. Er wird für den Autor fruchtbar, der da mit geschärften Sinnen und beinahe fiebriger Vorstellungskraft über den Friedhof geht und an die in der Erde denkt: »Der da unten liegt, ahnt nichts davon, daß der Stehende die Spanne seines Lebens betrachtet. Die Zeitrechnung ist für ihn zu Ende mit der Jahreszahl seines Todes; für den Betrachter ist sie aber weitergegangen, bis zu ihm selbst. Wieviel gäbe der alte Tote darum, könnte er noch neben dem Betrachter stehen!«
Was bei Canetti selbst in der größten Vereinseitigung seiner Tod-Beschimpfungen unbedingt authentisch wirkt, erscheint in dem Canetti beipflichtenden Nachwort von Thomas Macho sehr akademisch abgeleitet. Heideggers »Vorlaufen in den Tod« wird Canettis »Zurückstoßen des Todes« gegenübergestellt. Dabei ist das einzige, was Canetti zurückstößt, die Vorstellung, den Tod jemals lieben zu können. Ansonsten war ihm Heideggers Postulat, dass wir jederzeit sterben können, in seiner Doppelheit vertraut. Wir können sterben - es kann uns passieren. Wir können sterben - wir vermögen es. Das sagt etwas über unsere geistige Konstitution als Menschen aus. Wir sind dem Tod als Ereignis ausgeliefert, aber wir gehen nicht bloß zu Grunde: wir gehen ein in einen Generationenzusammenhang.
»Über den Tod« zum zweiten: Daniel Keel und Isabelle Vonlanthen haben sehr schöne Texte vom Altägyptischen Totenbuch, über den Prediger Salomo, über Homer, Sappho, Platon, Epikur, Cicero, Vergil, Seneca und Marc Aurel bis hin zu Nietzsche, Brecht, Tschechow, Thomas Mann, Georges Simenon, Orwell, Patricia Highsmith und Friedrich Dürrenmatt versammelt. Vorangestellt Urs Widmers »Die heiteren Toten«. Wenn die Toten erst einmal eine Weile tot sind, erscheinen sie uns viel liebenswürdiger, als sie zu Lebzeiten waren. Sie widersprechen auch nicht mehr. Und manch einer nutzt so etwas weidlich aus. Um nichts wird so gehauen und gestochen wie um die Toten, mit denen man sich rechtfertigen will. Widmer aber sieht das sehr heiter-entspannt: »Sie, und manche andere, waren live nicht nur herzig und liebenswürdig. Sie waren, für sich und uns, oft schwer zu ertragen. Aber sie haben sich, im Dunkel ihres Totseins, gut erholt und winken mir heiter zu. Es geht ihnen prächtig. Ich glaube, sie sind gern tot. Auch ich winke dann verstohlen, so daß die hinter mir Gehenden es nicht sehen, und lächle.«

Elias Canetti: Über den Tod. C. Hanser. 160Seiten, gebunden, 14,90 EUR.
Daniel Keel / Isabelle Vonlanthen (Hg.): Über den Tod. Diogenes Verlag. 204Seiten, Leinen, 12,90 EUR.
Der Tod bleibt der Skandal allen Lebens.
Urs Widmer

Wir leben im Zeitalter des Schleife laufenden Videos. Das verändert unser Denken grundlegend. Alles scheint wiederholbar geworden. Was uns jetzt entgeht, das holen wir eben beim nächsten Mal nach. Bei diesem Konzert kann ich nicht dabei sein? Wahrscheinlich gibt es eine Fernsehaufzeichnung oder wenigstens eine CD. Wir glauben nicht mehr an besondere Momente und an Einmaligkeiten, die etwas Endgültiges haben. Nur der Tod ist noch endgültig - und für den Einzelnen nicht wiederholbar. Er ist etwas Besonderes. Der Tod scheint inmitten einer massenkulturellen Zerstreuungsindustrie der letzte Ort geworden zu sein, von wo aus die Verletzlichkeit des Lebens noch erfahrbar wird. Zwei Bücher sind nun zu dieser Thematik erschienen: »Über den Tod« heißen sie seltsamerweise beide - und könnten doch verschiedener nicht sein.
»Über den Tod« zum ersten: Elias Canetti hat ein Leben lang über den Tod nachgedacht. Und nun sind diese Überlegungen, mit einem Nachwort von Thomas Macho versehen, im Carl Hanser Verlag versammelt worden. Canetti ist ein leidenschaftlicher Denker. Wenn es etwas Kränkendes gibt für einen Menschen, dann, dass er sterben wird. Darum hat der Mensch allen Grund, den Tod zu hassen, der ihm das Leben nimmt, ihn als Person auslöscht. Der Tod ist unser Feind, wir dürfen ihn nicht akzeptieren, sondern müssen so lange gegen ihn ankämpfen, wie unsere Kräfte ausreichen. Wir müssen sehr alt werden wollen! Der Hass auf den Tod hat bei Canetti einen traumatischen Grund. Als er sieben Jahre alt war, starb sein Vater plötzlich, mit einunddreißig Jahren. Nach einem Streit mit der Mutter, am Tag, nachdem sie von einer langen Kur zurückgekehrt war. Auf der hatte sie (wie der Vater vermutete) mit einem Arzt eine Affäre gehabt. Seinen Vater liebte das Kind, seine Mutter nicht. Nun nahm ihm der Tod gerade den Vater.
Sein ganzes Leben lang hat Canetti versucht, diesen Tod zu verstehen, hat seine Mutter später immer wieder nach Einzelheiten gefragt - und hat es nicht akzeptieren können. Dieser Tod blieb sein Feind. 1946 sagt er: »Mein Haß gegen den Tod setzt ein unaufhörliches Bewußtsein von ihm voraus; es wundert mich, wie ich so leben kann.« Aus diesem Hass hat Canetti Lebenskraft bezogen. Aber vielleicht hat diese dauernde Beschäftigung mit dem Tod ihm diesen auch vertrauter gemacht, als er zugeben wollte. Die plakative Ablehnung jeglicher Versuche, Leben und Tod in eine Einheit zu bringen, lässt bei Canetti jeden Tod wie einen Unglücksfall, oder schlimmer noch, wie einen Mord erscheinen. Gegen die Rede vom lebenserhaltenden Tod (die Gattung, die ohne das Sterben der Einzelnen sich nicht erneuern könnte) rebellierte er mit allen Fasern seines Ichs. Es gibt keinen glücklichen Tod. Canettis Radikalismus ist mehr als nur provokativ. Er wird für den Autor fruchtbar, der da mit geschärften Sinnen und beinahe fiebriger Vorstellungskraft über den Friedhof geht und an die in der Erde denkt: »Der da unten liegt, ahnt nichts davon, daß der Stehende die Spanne seines Lebens betrachtet. Die Zeitrechnung ist für ihn zu Ende mit der Jahreszahl seines Todes; für den Betrachter ist sie aber weitergegangen, bis zu ihm selbst. Wieviel gäbe der alte Tote darum, könnte er noch neben dem Betrachter stehen!«
Was bei Canetti selbst in der größten Vereinseitigung seiner Tod-Beschimpfungen unbedingt authentisch wirkt, erscheint in dem Canetti beipflichtenden Nachwort von Thomas Macho sehr akademisch abgeleitet. Heideggers »Vorlaufen in den Tod« wird Canettis »Zurückstoßen des Todes« gegenübergestellt. Dabei ist das einzige, was Canetti zurückstößt, die Vorstellung, den Tod jemals lieben zu können. Ansonsten war ihm Heideggers Postulat, dass wir jederzeit sterben können, in seiner Doppelheit vertraut. Wir können sterben - es kann uns passieren. Wir können sterben - wir vermögen es. Das sagt etwas über unsere geistige Konstitution als Menschen aus. Wir sind dem Tod als Ereignis ausgeliefert, aber wir gehen nicht bloß zu Grunde: wir gehen ein in einen Generationenzusammenhang.
»Über den Tod« zum zweiten: Daniel Keel und Isabelle Vonlanthen haben sehr schöne Texte vom Altägyptischen Totenbuch, über den Prediger Salomo, über Homer, Sappho, Platon, Epikur, Cicero, Vergil, Seneca und Marc Aurel bis hin zu Nietzsche, Brecht, Tschechow, Thomas Mann, Georges Simenon, Orwell, Patricia Highsmith und Friedrich Dürrenmatt versammelt. Vorangestellt Urs Widmers »Die heiteren Toten«. Wenn die Toten erst einmal eine Weile tot sind, erscheinen sie uns viel liebenswürdiger, als sie zu Lebzeiten waren. Sie widersprechen auch nicht mehr. Und manch einer nutzt so etwas weidlich aus. Um nichts wird so gehauen und gestochen wie um die Toten, mit denen man sich rechtfertigen will. Widmer aber sieht das sehr heiter-entspannt: »Sie, und manche andere, waren live nicht nur herzig und liebenswürdig. Sie waren, für sich und uns, oft schwer zu ertragen. Aber sie haben sich, im Dunkel ihres Totseins, gut erholt und winken mir heiter zu. Es geht ihnen prächtig. Ich glaube, sie sind gern tot. Auch ich winke dann verstohlen, so daß die hinter mir Gehenden es nicht sehen, und lächle.«

Elias Canetti: Über den Tod. C. Hanser. 160Seiten, gebunden, 14,90 EUR.
Daniel Keel / Isabelle Vonlanthen (Hg.): Über den Tod. Diogenes Verlag. 204Seiten, Leinen, 12,90 EUR.

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