Sozialismus des Herzens

Großbritanniens letzter politischer Songwriter Billy Bragg feiert sein 20-jähriges Bühnenjubiläum

Als »nationalen Schatz« bezeichnete ihn die Londoner »Times«. Ein eher zweifelhaftes Kompliment für einen Sänger, der seit 20 Jahren in erster Linie gegen das Establishment kämpft. Dennoch zeigt es, wie wichtig Billy Bragg für Großbritannien, ja für ganz Europa geworden ist: Seit seinem Debüt 1983 mit »Life's a riot with Spy vs Spy« hat er es immer wieder geschafft, den Menschen seine Sicht der Welt nahe zu bringen, Freunde und Feinde gleichermaßen mit mal wütenden, mal zärtlichen, aber immer hoch intelligenten Liedern herauszufordern.

ND: Du kannst in diesen Tagen auf eine immerhin schon 20-jährige Karriere als politischer Liedmacher zurückblicken. Es scheint, als sei dieser Berufsstand mittlerweile vom Aussterben bedroht. Wenn du heute noch einmal eine Karriere beginnen würdest, würdest du dich wieder für das politische Lied entscheiden?
Bragg: Ich würde wieder genau das Gleiche tun wollen, aber es wäre heute sicher schwieriger. In den 80ern wurden wir von den damals Regierenden regelrecht in diese ideologischen Kämpfe hineingezwungen: In Deutschland war es Helmut Kohl, hier in England die Regierung Thatcher und in den USA Ronald Reagan. Diese ideologischen Gräben gibt es heute nicht mehr, die Unterschiede zwischen Links und Rechts existieren einfach nicht mehr in dem Maße.

Als du angefangen hast, Lieder zu schreiben, da richtete sich dein Zorn vor allem gegen Margaret Thatcher, die damalige Premierministerin. Heute lebst du auf dem Land und hast eine Kampagne gegen den dortigen Parlamentsabgeordneten gestartet. Heißt das, dass du jetzt Lokalpolitik betreibst?
Nein, ich kämpfe immer noch gegen Konservative, gegen Kleingeist und Fremdenfeindlichkeit. Auf meinem letzten Album habe ich mich vor allem mit dem Thema »Englishness« auseinandergesetzt, einem Thema, das mich schon sehr lange beschäftigt. Ich habe begonnen als junger Sänger beim Festival »Rock gegen Rassismus«, und wenn ich heute über die englische Nation reflektiere, dann geschieht das natürlich auch als Reaktion auf das Erstarken des Rechtsradikalismus in Europa. Also, meine Themen sind die gleichen geblieben, geändert hat sich nur die Art, wie ich über sie schreibe.

Wenn man über Politik schreibt, muss man natürlich auch die Veränderungen um einen herum registrieren, und in England hat sich doch einiges verändert seit der Wahl von Tony Blair. Trotzdem scheint es, als hätten sich die Dimensionen deines Handelns auf eine andere Ebene verlagert...
Ja, das heißt aber nicht, dass ich meine Ansprüche heruntergeschraubt hätte. Es ist eher so, dass ich mich jetzt stärker in das tatsächliche politische Geschehen einmische und nicht nur in abstrakten Begriffen darüber singe. In Dorset, wo ich jetzt wohne, ist die Gesellschaft noch sehr ländlich geprägt. Da kann man tatsächlich durch eine Kampagne auf lokaler Ebene noch etwas erreichen, bis hin zur Abwahl des Parlamentsabgeordneten. Das hat mich überrascht und überzeugt. Was die englische Identität angeht, den derzeitigen Nationalismus, auch da kann jeder Einzelne einiges verändern durch die Art, wie er auf Fremde zugeht, auf Menschen, die hier bei uns Arbeit oder ein besseres Leben suchen.

Es scheint, als hätten Nationalismus und Rassismus im 21. Jahrhundert die Links/Rechts-Dichotomie im Zentrum der Politik abgelöst. Und wie sieht es mit dem Sozialismus aus? Wie hat sich da seit den Tagen, als du als junger Punk in Ost-Berlin aufgetreten bist, bis heute, wo du einen »Sozialismus des Herzens« propagierst, deine Einstellung verändert?
Als ich 1986 zum ersten Mal beim Festival des politischen Liedes im Palast der Republik auftrat, war Sozialismus für die meisten Menschen gleichbedeutend mit Marxismus. Ich selbst war zwar nie ein Marxist, aber ich habe doch auch die Sprache des Marxismus gelernt. Irgendwie war der Marxismus für mich immer ein Sozialismus des Kopfes, im Gegensatz zu einem Sozialismus des Herzens, wie er mir immer vorgeschwebt hat. Ich glaube nicht, dass man mit marxistischer Terminologie heute noch die Menschen erreicht, vor allem, seit die Mauer gefallen ist. Wenn ich heute zu jemandem sage, ich würde gern in einer sozialistischen Gesellschaft leben, dann muss ich gleich noch eine 15-minütige Erklärung anhängen, dass diese Gesellschaft nicht so sein sollte wie in der DDR. Wenn ich aber sage, dass ich gern in einer mitfühlenden Gesellschaft leben würde, dann verstehen das die meisten Leute sofort, und es gibt gleich so etwas wie eine gemeinsame Basis. Das ist es, was ich meine mit Sozialismus des Herzens: Mitgefühl!
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der UdSSR, da mussten sich alle, die an linke politische Ideale geglaubt haben, doch erst einmal fragen: Was bedeutet es jetzt noch, Sozialist zu sein? Ich selbst habe diese Frage für mich so beantwortet, dass ich gewissermaßen einen Schritt zurückgetreten bin, zurück zu den grundlegenden humanitären Werten, an die ich immer geglaubt habe. Wenn man sich die Anti-Globalisierungs-Bewegung ansieht, die vielleicht stärkste politische Bewegung unserer Tage, die wird aus ganz unterschiedlichen ideologischen Quellen gespeist. Ich bin mir ganz sicher, dass aus ihr eines Tages wieder eine klare politische Stoßrichtung erwachsen wird, aber mit Marxismus wird das nichts mehr zu tun haben.

Das ist doch sicher nicht ganz einfach für einen Liedermacher, eine derart komplexe politische Situation wie die heutige in Worte zu fassen.
Man muss ganz genau überlegen, worüber man spricht. Ein Begriff, der für mich heute sehr wichtig geworden ist, das ist accountability, also die Verantwortlichkeit, die Rechenschaft. Das Wort Demokratie dagegen hat sehr viel von seiner ursprünglichen Bedeutung eingebüßt. Nehmen wir das Beispiel USA, die angeblich führende Demokratie im globalen Maßstab, ein Land, in dem nur noch ein Bruchteil der Menschen tatsächlich wählen geht. Und wenn sie es tun, dann bekommen sie noch nicht mal den Mann, den sie gewählt haben, sondern den, der eigentlich die Wahl verloren hat! Daher finde ich es wichtig, Politiker besser zu kontrollieren, stärker zur Verantwortung zu ziehen. Das Gleiche gilt für Organisationen wie die Weltbank, den IWF und die großen multinationalen Konzerne, Organisationen, die überhaupt keine demokratische Legitimation haben. Um das zu tun, müssen wir aber erstmal neue Wege finden, neue Begriffe, um die gegenwärtige Situation zu beschreiben. Ich finde, das ist eine reizvolle Aufgabe. Wir sind die erste Generation nach dem Ende des Kalten Krieges, wir haben die Chance, eine Neue Linke, einen neuen Sozialismus zu definieren, über dem nicht der Schatten des Stalinismus und des Totalitarismus hängt.

»Accountability« ist ja ein Konzept, das du schon auf deinem letzten Album »England, Half English« besungen hast. Nun ist das europäische Land, in dem das Prinzip der Rechenschaftslegung am stärksten in der Verfassung verankert ist, nämlich die Schweiz, ja auch nicht gerade eine ideale Gesellschaft...
Das stimmt. Aber gibt es das überhaupt, eine ideale Gesellschaft? Viele Länder in Europa haben leider ein sehr enges, sehr traditionelles Verständnis davon, was ihren Charakter ausmacht. In der Schweiz gibt es zwar dieses schöne Modell der direkten Demokratie, aber auf der anderen Seite nimmt dieses Land aus historischen Gründen überhaupt nicht teil an dem breiten demokratischen Prozess der europäischen Einigung. Oder nehmen wir ein Land wie Holland, das immer als besonders liberal galt. Auf einmal gibt es dort einen enormen Rückhalt für einen Mann wie Pim Fortuyn. Das alles sind typische Anzeichen einer post-ideologischen Gesellschaft: Wenn die Ideologie geht und die Leute nicht mehr an irgendwelche festen und unverrückbaren Grundsätze glauben, dann kann jemand auf einmal gleichzeitig homosexuell und ein Rassist sein und damit auch noch Erfolg haben. Oder ein Mann wie Tony Blair gleichzeitig Chef der Labour Party und ein Konservativer. Oder jemand wie Gerhard Schröder kann kommen und das erfolgreiche sozialstaatliche Deutschland zerstören, das seine eigene Partei mit aufgebaut hat.

Zur Feier deines 20-jährigen Bühnenjubiläums hast du eine CD-Box herausgebracht mit dem Titel »Must I paint you a picture?«, das Aufnahmen aus allen Phasen deiner Karriere enthält. Wie hast du da überhaupt eine Auswahl getroffen?
Mir war von Anfang an klar, dass die Auswahl nicht ganz einfach sein würde, dass ich mindestens zwei CDs brauchen würde. Ich habe die Auswahl dann weitestgehend meinen Fans überlassen, beziehungsweise den Leuten, die ständige Besucher meiner Website billybragg.co.uk. sind. Dort haben wir etwa einen Monat lang eine Umfrage gemacht, und die 40 Titel, die am Ende ausgewählt wurden, die waren interessanterweise fast identisch mit denen, die ich selbst auch favorisiert hätte. Ich musste nur zwei oder drei Lieder hineinmogeln, Stücke, nach denen ich bei Konzerten immer wieder gefragt werde. Aber ansonsten war das Resultat der Web-Umfrage praktisch identisch mit meiner persönlichen Hitliste, das ist doch ermutigend.

Ein verbindendes Element bei allem, was du gemacht hast, war die Art, wie du politische und private Themen auf einer CD, oft sogar innerhalb eines Songs, vermischt hast. Sind Liebe und Politik für dich möglicherweise identisch?
Identisch würde ich nicht sagen, aber beide sind Teil der menschlichen Erfahrungswelt. Ich bin bekannt geworden als politischer Liedermacher, aber wenn du dir anschaust, was ich so alles geschrieben habe, dann geht es in der Tat viel öfter um Liebe als um Politik. Trotzdem ist es mir nicht unangenehm, als politischer Mensch zu gelten, im Gegenteil, ich finde es großartig, diese Plattform zu haben, über Dinge sprechen zu können, die mich wirklich interessieren. Es wäre doch ganz schön langweilig, wenn wir uns hier nur darüber unterhalten würden, was für tolle Hosen ich anhabe.

Ein Sänger, der für dich enorm wichtig war, das war Woody Guthrie. Seine Tochter Nora sagte einmal, wenn ihr Vater heute noch lebte, würde er sicher in der ersten Reihe der Globalisierungsgegner marschieren. Wird das auch dein Platz sein, in den nächsten 20 Jahren?
Ich glaube nicht, dass ich in der ersten Reihe zu finden sein sollte, denn die Anti-Globalisierungsbewegung geht doch von einer neuen, jüngeren Generation aus. Aber ich werde sicher mitmarschieren, ich versuche einen Ort zu finden, an dem ich meine eigenen Erfahrungen einbringen kann. Das ist wirklich spannend: Ich treffe dort junge Menschen, die gerade geboren wurden, als ich zum ersten Mal auf politischen Veranstaltungen aufgetreten bin. Sie haben so viel Energie und ganz neue Ansätze, die mit dem marxistischen Jargon nichts mehr zu tun haben. Und wenn ich dann gebeten werde, etwas zu singen und ich mir krampfhaft überlege, welches neue Stück ich denn nun spielen könnte, das irgendwie den Geist dieser neuen Bewegung reflektiert, dann bitten sie mich, ich möge doch die Internationale singen.

Interview: Carsten Beyer

»Must I paint you a picture? - The Essential Billy Bragg« ist bei Cooking Vinyl erschienen. Zur Zeit ist Billy Bragg auf USA-Tornee. Im Frühjahr kommt er wieder nach Deutschland.ND: Du kannst in diesen Tagen auf eine immerhin schon 20-jährige Karriere als politischer Liedmacher zurückblicken. Es scheint, als sei dieser Berufsstand mittlerweile vom Aussterben bedroht. Wenn du heute noch einmal eine Karriere beginnen würdest, würdest du dich wieder für das politische Lied entscheiden?
Bragg: Ich würde wieder genau das Gleiche tun wollen, aber es wäre heute sicher schwieriger. In den 80ern wurden wir von den damals Regierenden regelrecht in diese ideologischen Kämpfe hineingezwungen: In Deutschland war es Helmut Kohl, hier in England die Regierung Thatcher und in den USA Ronald Reagan. Diese ideologischen Gräben gibt es heute nicht mehr, die Unterschiede zwischen Links und Rechts existieren einfach nicht mehr in dem Maße.

Als du angefangen hast, Lieder zu schreiben, da richtete sich dein Zorn vor allem gegen Margaret Thatcher, die damalige Premierministerin. Heute lebst du auf dem Land und hast eine Kampagne gegen den dortigen Parlamentsabgeordneten gestartet. Heißt das, dass du jetzt Lokalpolitik betreibst?
Nein, ich kämpfe immer noch gegen Konservative, gegen Kleingeist und Fremdenfeindlichkeit. Auf meinem letzten Album habe ich mich vor allem mit dem Thema »Englishness« auseinandergesetzt, einem Thema, das mich schon sehr lange beschäftigt. Ich habe begonnen als junger Sänger beim Festival »Rock gegen Rassismus«, und wenn ich heute über die englische Nation reflektiere, dann geschieht das natürlich auch als Reaktion auf das Erstarken des Rechtsradikalismus in Europa. Also, meine Themen sind die gleichen geblieben, geändert hat sich nur die Art, wie ich über sie schreibe.

Wenn man über Politik schreibt, muss man natürlich auch die Veränderungen um einen herum registrieren, und in England hat sich doch einiges verändert seit der Wahl von Tony Blair. Trotzdem scheint es, als hätten sich die Dimensionen deines Handelns auf eine andere Ebene verlagert...
Ja, das heißt aber nicht, dass ich meine Ansprüche heruntergeschraubt hätte. Es ist eher so, dass ich mich jetzt stärker in das tatsächliche politische Geschehen einmische und nicht nur in abstrakten Begriffen darüber singe. In Dorset, wo ich jetzt wohne, ist die Gesellschaft noch sehr ländlich geprägt. Da kann man tatsächlich durch eine Kampagne auf lokaler Ebene noch etwas erreichen, bis hin zur Abwahl des Parlamentsabgeordneten. Das hat mich überrascht und überzeugt. Was die englische Identität angeht, den derzeitigen Nationalismus, auch da kann jeder Einzelne einiges verändern durch die Art, wie er auf Fremde zugeht, auf Menschen, die hier bei uns Arbeit oder ein besseres Leben suchen.

Es scheint, als hätten Nationalismus und Rassismus im 21. Jahrhundert die Links/Rechts-Dichotomie im Zentrum der Politik abgelöst. Und wie sieht es mit dem Sozialismus aus? Wie hat sich da seit den Tagen, als du als junger Punk in Ost-Berlin aufgetreten bist, bis heute, wo du einen »Sozialismus des Herzens« propagierst, deine Einstellung verändert?
Als ich 1986 zum ersten Mal beim Festival des politischen Liedes im Palast der Republik auftrat, war Sozialismus für die meisten Menschen gleichbedeutend mit Marxismus. Ich selbst war zwar nie ein Marxist, aber ich habe doch auch die Sprache des Marxismus gelernt. Irgendwie war der Marxismus für mich immer ein Sozialismus des Kopfes, im Gegensatz zu einem Sozialismus des Herzens, wie er mir immer vorgeschwebt hat. Ich glaube nicht, dass man mit marxistischer Terminologie heute noch die Menschen erreicht, vor allem, seit die Mauer gefallen ist. Wenn ich heute zu jemandem sage, ich würde gern in einer sozialistischen Gesellschaft leben, dann muss ich gleich noch eine 15-minütige Erklärung anhängen, dass diese Gesellschaft nicht so sein sollte wie in der DDR. Wenn ich aber sage, dass ich gern in einer mitfühlenden Gesellschaft leben würde, dann verstehen das die meisten Leute sofort, und es gibt gleich so etwas wie eine gemeinsame Basis. Das ist es, was ich meine mit Sozialismus des Herzens: Mitgefühl!
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der UdSSR, da mussten sich alle, die an linke politische Ideale geglaubt haben, doch erst einmal fragen: Was bedeutet es jetzt noch, Sozialist zu sein? Ich selbst habe diese Frage für mich so beantwortet, dass ich gewissermaßen einen Schritt zurückgetreten bin, zurück zu den grundlegenden humanitären Werten, an die ich immer geglaubt habe. Wenn man sich die Anti-Globalisierungs-Bewegung ansieht, die vielleicht stärkste politische Bewegung unserer Tage, die wird aus ganz unterschiedlichen ideologischen Quellen gespeist. Ich bin mir ganz sicher, dass aus ihr eines Tages wieder eine klare politische Stoßrichtung erwachsen wird, aber mit Marxismus wird das nichts mehr zu tun haben.

Das ist doch sicher nicht ganz einfach für einen Liedermacher, eine derart komplexe politische Situation wie die heutige in Worte zu fassen.
Man muss ganz genau überlegen, worüber man spricht. Ein Begriff, der für mich heute sehr wichtig geworden ist, das ist accountability, also die Verantwortlichkeit, die Rechenschaft. Das Wort Demokratie dagegen hat sehr viel von seiner ursprünglichen Bedeutung eingebüßt. Nehmen wir das Beispiel USA, die angeblich führende Demokratie im globalen Maßstab, ein Land, in dem nur noch ein Bruchteil der Menschen tatsächlich wählen geht. Und wenn sie es tun, dann bekommen sie noch nicht mal den Mann, den sie gewählt haben, sondern den, der eigentlich die Wahl verloren hat! Daher finde ich es wichtig, Politiker besser zu kontrollieren, stärker zur Verantwortung zu ziehen. Das Gleiche gilt für Organisationen wie die Weltbank, den IWF und die großen multinationalen Konzerne, Organisationen, die überhaupt keine demokratische Legitimation haben. Um das zu tun, müssen wir aber erstmal neue Wege finden, neue Begriffe, um die gegenwärtige Situation zu beschreiben. Ich finde, das ist eine reizvolle Aufgabe. Wir sind die erste Generation nach dem Ende des Kalten Krieges, wir haben die Chance, eine Neue Linke, einen neuen Sozialismus zu definieren, über dem nicht der Schatten des Stalinismus und des Totalitarismus hängt.

»Accountability« ist ja ein Konzept, das du schon auf deinem letzten Album »England, Half English« besungen hast. Nun ist das europäische Land, in dem das Prinzip der Rechenschaftslegung am stärksten in der Verfassung verankert ist, nämlich die Schweiz, ja auch nicht gerade eine ideale Gesellschaft...
Das stimmt. Aber gibt es das überhaupt, eine ideale Gesellschaft? Viele Länder in Europa haben leider ein sehr enges, sehr traditionelles Verständnis davon, was ihren Charakter ausmacht. In der Schweiz gibt es zwar dieses schöne Modell der direkten Demokratie, aber auf der anderen Seite nimmt dieses Land aus historischen Gründen überhaupt nicht teil an dem breiten demokratischen Prozess der europäischen Einigung. Oder nehmen wir ein Land wie Holland, das immer als besonders liberal galt. Auf einmal gibt es dort einen enormen Rückhalt für einen Mann wie Pim Fortuyn. Das alles sind typische Anzeichen einer post-ideologischen Gesellschaft: Wenn die Ideologie geht und die Leute nicht mehr an irgendwelche festen und unverrückbaren Grundsätze glauben, dann kann jemand auf einmal gleichzeitig homosexuell und ein Rassist sein und damit auch noch Erfolg haben. Oder ein Mann wie Tony Blair gleichzeitig Chef der Labour Party und ein Konservativer. Oder jemand wie Gerhard Schröder kann kommen und das erfolgreiche sozialstaatliche Deutschland zerstören, das seine eigene Partei mit aufgebaut hat.

Zur Feier deines 20-jährigen Bühnenjubiläums hast du eine CD-Box herausgebracht mit dem Titel »Must I paint you a picture?«, das Aufnahmen aus allen Phasen deiner Karriere enthält. Wie hast du da überhaupt eine Auswahl getroffen?
Mir war von Anfang an klar, dass die Auswahl nicht ganz einfach sein würde, dass ich mindestens zwei CDs brauchen würde. Ich habe die Auswahl dann weitestgehend meinen Fans überlassen, beziehungsweise den Leuten, die ständige Besucher meiner Website billybragg.co.uk. sind. Dort haben wir etwa einen Monat lang eine Umfrage gemacht, und die 40 Titel, die am Ende ausgewählt wurden, die waren interessanterweise fast identisch mit denen, die ich selbst auch favorisiert hätte. Ich musste nur zwei oder drei Lieder hineinmogeln, Stücke, nach denen ich bei Konzerten immer wieder gefragt werde. Aber ansonsten war das Resultat der Web-Umfrage praktisch identisch mit meiner persönlichen Hitliste, das ist doch ermutigend.

Ein verbindendes Element bei allem, was du gemacht hast, war die Art, wie du politische und private Themen auf einer CD, oft sogar innerhalb eines Songs, vermischt hast. Sind Liebe und Politik für dich möglicherweise identisch?
Identisch würde ich nicht sagen, aber beide sind Teil der menschlichen Erfahrungswelt. Ich bin bekannt geworden als politischer Liedermacher, aber wenn du dir anschaust, was ich so alles geschrieben habe, dann geht es in der Tat viel öfter um Liebe als um Politik. Trotzdem ist es mir nicht unangenehm, als politischer Mensch zu gelten, im Gegenteil, ich finde es großartig, diese Plattform zu haben, über Dinge sprechen zu können, die mich wirklich interessieren. Es wäre doch ganz schön langweilig, wenn wir uns hier nur darüber unterhalten würden, was für tolle Hosen ich anhabe.

Ein Sänger, der für dich enorm wichtig war, das war Woody Guthrie. Seine Tochter Nora sagte einmal, wenn ihr Vater heute noch lebte, würde er sicher in der ersten Reihe der Globalisierungsgegner marschieren. Wird das auch dein Platz sein, in den nächsten 20 Jahren?
Ich glaube nicht, dass ich in der ersten Reihe zu finden sein sollte, denn die Anti-Globalisierungsbewegung geht doch von einer neuen, jüngeren Generation aus. Aber ich werde sicher mitmarschieren, ich versuche einen Ort zu finden, an dem ich meine eigenen Erfahrungen einbringen kann. Das ist wirklich spannend: Ich treffe dort junge Menschen, die gerade geboren wurden, als ich zum ersten Mal auf politischen Veranstaltungen aufgetreten bin. Sie haben so viel Energie und ganz neue Ansätze, die mit dem marxistischen Jargon nichts mehr zu tun haben. Und wenn ich dann gebeten werde, etwas zu singen und ich mir krampfhaft überlege, welches neue Stück ich denn nun spielen könnte, das irgendwie den Geist dieser neuen Bewegung reflektiert, dann bitten sie mich, ich möge doch die Internationale singen.

Interview: Carsten Beyer

»Must I paint you a picture? - The Essential Billy Bragg« ist bei Cooking Vinyl erschienen. Zur Zeit ist Billy Bragg auf USA-Tornee. Im Frühjahr kommt er wieder nach Deutschland.

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.