Panik in der Istiklal-Straße

Offenbar gute Kontakte zwischen Al Qaida und türkischen Extremisten

  • Jan Keetman, Istanbul
  • Lesedauer: 3 Min.
Nur fünf Tage nach den beiden Selbstmordattentaten auf die größten Synagogen Istanbuls erschütterten gestern wieder zwei heftige Explosionen die Zehn- Millionen-Metropole am Bosporus.
Im Abstand von nur fünf Minuten explodierten mit Sprengstoff beladene Kleinlaster vor der türkischen Zentrale der britischen Großbank Hongkong Shanghai Banking Corporation (HSBC), dem weltweit zweitgrößten Finanzinstitut, und vor dem britischen Konsulat in Beyoglu. In der nahen Fußgängerzone rund um die Istiklal-Straße herrschte noch Minuten nach dem Anschlag Panik. Passanten mit blutigen Köpfen liefen unter Schock ziellos umher, Frauen brachen in Tränen aus. Insbesondere die von den hohen Fassaden herunterbrechenden Glasscheiben hatten viele Leute verletzt. In den engen Seitenstraßen versammelten sich Passanten um Autoradios und hörten fassungslos die Nachrichten über das, was gerade um sie vorging. Der Schrecken war noch größer als bei den Anschlägen auf die Synagogen. Bei mildem Herbstwetter erwarteten die Istanbuler eines der höchsten islamischen Feste, das Zuckerfest, mit dem der Fastenmonat Ramadan beendet wird. Bis sich der Albtraum plötzlich wiederholte. Die Parallelen zwischen beiden Attentatsserien sind nicht zu übersehen: Wieder zwei Anschläge fast gleichzeitig gegen ein Ziel. Wieder zwei mit Sprengstoff beladene Kleinlaster, deren Fahrer sich mit in den Tod reißen lassen. Wenn Berichte von Passanten stimmen, die nach der Explosion in Beyoglu intensiven Ammoniak-Geruch wahrgenommen haben wollen, so war es auch der gleiche Sprengstoff, häufig als Stickstoffdünger gebrauchtes Ammoniumnitrat. Ein Anrufer bei der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu übernahm im Namen der türkischen Terrororganisation IBDA-C und des internationalen Netzwerkes Al Qaida die Verantwortung für die Attentate. Schon am Sonnabend hatte sich ein Anrufer im Namen der IBDA-C (Front der Vorkämpfer für den Großen Islamischen Osten) zu den Anschlägen auf die Synagogen bekannt. Innenminister Abdülkadir Aksu spielte den Hinweis auf eine türkische Organisation jedoch erneut herunter. Nachdem sich herausgestellt hat, dass türkische Staatsbürger am Sonnabend die beiden Bombenlaster vor den Synagogen zur Explosion brachten, ist es aber zumindest sicher, dass Al Qaida türkische Helfer hatte. Damit ist auch der Hinweis auf die IBDA-C nicht abwegig. Weil sie nach dem Anschlag auf die Synagogen offen über den jeweiligen Stand der Ermittlungen berichtet hatte, wurde der türkischen Presse ein Verbot der Veröffentlichung von Beweisen zu den Anschlägen auferlegt, das auch Diskussionen über den Anteil türkischer Islamisten an den Attentaten behindert. Doch was immer der Anteil örtlicher Gruppen an den Anschlägen war, sie passen in das Konzept weltweiter, spektakulärer Selbstmordanschläge, die Al Qaida mit den Attentaten vom 11. September eröffnet hatte. Es war auch sicher kein Zufall, dass die Anschläge auf britische Einrichtungen gleichzeitig mit dem Besuch von USA-Präsident George W. Bush bei Tony Blair in London erfolgten. Keinen äußeren Grund gab es jedoch dafür, eine Reaktion auf diesen Besuch gerade vom türkischen Istanbul aus zu inszenieren. Das deutet darauf, dass Al Qaida hier besonders gute Voraussetzungen durch Kooperation mit türkischen Islamisten fand. Die gemäßigt islamische Regierung von Recep Erdogan wird wohl gezwungen sein, das Problem der heimischen Radikalislamisten etwas ernster zu nehmen. Auch über eine schärfere Kontrolle des Chemikalienmarktes sollte man in Ankara wohl nachdenken. Den beiden Anschlägen auf britische Einrichtungen waren in den vergangenen Monaten mehrere kleinere Attacken vorausgegangen. So explodierte am 3. April ein Sprengsatz vor der Visa-Abteilung des britischen Konsulats. Am 8. April war das britische Konsulat in Izmir Ziel eines Anschlags. Und am 31. Mai kam es bereits zu mehreren kleineren Explosionen vor zwei der insgesamt 157 türkischen Filialen der HSBC-Bank.
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