Islamabad duldet Taliban-Reorganisation

Verbot militanter Gruppen, aber zugleich wehen in Belutschistan Flaggen der afghanischen Gotteskrieger

  • Jan Heller, Kabul
  • Lesedauer: 4 Min.
Pakistan ist zwar offiziell einer der wichtigsten USA-Partner in der »Antiterror«-Koalition, aber einheimische Islamisten und der Geheimdienst können sich relativ ungestört der Reorganisation der Taliban widmen.
Binnen sechs Tagen hat Pakistans Regierung sechs militante, teilweise in den internationalen Terrorismus verwickelte Gruppen verboten. Zunächst traf es zwei Organisationen, die in Kaschmir agieren, sowie eine schiitische Gruppe. Bei der zweiten Welle war Jamaat-ul-Furqan dabei, die Anfang 2002 in Karatschi den »Wall Street Journal«-Korrespondenten Daniel Pearl enthauptet hatte. Drei der Gruppen hatte der Bann bereits schon einmal kurz nach den Anschlägen vom 11. September getroffen. Sie hatten sich kurzerhand umbenannt und ihre Aktivitäten beinahe ungestört fortsetzen können. Offenbar handelte die pakistanische Regierung dabei nicht aus eigenem Antrieb. Nur zwei Tage zuvor hatte sich die USA-Botschafterin in Islamabad, Nancy Powell, »besorgt« darüber geäußert, dass diese Gruppen eine »ernste Gefahr« für Pakistan wie für die USA darstellten. Kein Einzelfall: Ebenfalls zwei Tage, nachdem USA-Vizeaußenminister Richard Armitage im Oktober Pakistan besucht und das Engagement des Geheimdienstes ISI für die Terrorbekämpfung bemängelt hatte, startete Islamabad die erste Aktion gegen Taliban. Doch in Waziristan, einem Teil der zu Pakistan gehörenden paschtunischen Stammesgebiete, ging dabei nur Fußvolk in die Falle. Beobachter gehen davon aus, dass der ISI eine Reihe von Terroristen unter Beobachtung hält, die bei Bedarf verhaftet werden. Washington benötigt Pakistan in seinem »Krieg gegen den Terrorismus« als einen der Hauptverbündeten. Pakistans Islamisten können sich indes weiter öffentlich produzieren. So verkündeten vergangene Woche Vorsteher von Koran-Schulen der wichtigsten islamischen Glaubensrichtungen Pakistans, dass sie sich der »Musharraf von den USA verordneten Agenda« widersetzen würden, ihnen staatliche Lehrpläne zu verordnen. Keine Reaktion darauf vom Staatschef. Pakistans Engagement gegen islamistische Terroristen ist also bestenfalls selektiv. Während bisher über 500 Al-Qaida-Leute gefasst wurden, bleiben die Taliban weitestgehend unbehelligt. Sie haben sich mittlerweile von ihrer Niederlage Ende 2001 erholt und reorganisiert. Die pakistanische Tageszeitung »The News« sah Talibanflaggen über Quetta, der Hauptstadt des Teilstaates Belutschistan, wehen. Der pakistanische Starjournalist Ahmed Rashid (u.a. »Heiliger Krieg am Hindukusch«) berichtet: »Tausende Taliban-Kämpfer leben mit voller Unterstützung der Regierungspartei der Provinz (der islamistischen MMA-Allianz) und militanter pakistanischer Gruppen in Moscheen und Madrassen. Taliban-Führer, die von den USA und der Kabuler Regierung gesucht werden, wohnen offen in nahe gelegenen Dörfern, und ihre Familien haben Zuflucht in Flüchtlingslagern in Pakistan gefunden.« Afghanische Augenzeugen berichten aus Pakistan, dass Motorräder, neben Waffen, Geld und Mobiltelefonen, zur Standardausrüstung gehören, die Taliban-Aktivisten in Pakistan an ihre Anhänger verteilen, augenscheinlich ungestört von Geheimdienst und Armee. Auch der letzte Aufruf des Taliban-Chefs Mulla Muhammad Omar, auf einer Audiokassette gespeichert, wurde Mitte des Monats einer internationalen Nachrichtenagentur von nicht identifizierten Motorradfahrern zugespielt. Von führenden Taliban sind selbst die Adressen bekannt. Ihr ehemaliger Minister für Stammesangelegenheiten, Jalaluddin Haqqani, etwa wohnt mitten in einem Militärs vorbehaltenen Wohnviertel der Stadt Miran Shah in Waziristan. Diese pakistanische Unterstützung der Taliban hat Folgen. Vor neun Tagen ermordeten Taliban zum ersten Mal seit ihrem Sturz eine ausländische UN-Mitarbeiterin. Die 29-jährige Französin Bettina Goislard vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR wurde mitten im Basar von Ghazni von einem Motorrad aus erschossen. Am selben Tag drangen Taliban in Ghazni in das Büro einer Nichtregierungsorganisation ein und suchten - erfolglos - nach einem ausländischen Kidnapping-Opfer. Hassan Onal, ein türkischer Straßenbau-Ingenieur, hatte weniger Glück. Seit dem 30. Oktober befindet er sich in den Händen der Taliban, die 250 Gesinnungsgenossen freipressen wollen. Immerhin ein Lichtblick: Einwohner Ghaznis stellten die mutmaßlichen Mörder Bettina Goislards und übergaben sie der Polizei. Als ihr Leichnam nach Kabul überführt wurde, begleiteten ihn viele Einwohner der Stadt, ein Zeichen dafür, dass die meisten Afghanen keine Neuauflage des Taliban-Regimes wünschen. Pakistans mangelhaftes Vorgehen gegen die Taliban hat auch zum wiederholten Mal für Kritik aus Kabul gesorgt. Interimspräsident Hamid Karzai erklärte vorigen Donnerstag, dass führende Taliban in Pakistan aktiv seien. Er hoffe, dass »unsere Brüder in Pakistan begreifen, dass der Terrorismus nicht nur Afghanistan in Mitleidenschaft zieht«. Die pakistanische Praxis in Sachen Taliban lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen verfolgt Pakistan offenbar weiter, geringfügig modifiziert, die gleiche Afghanistan-Politik, die schon zur Unterstützung für das Taliban-Regime führte - die so genannte Doktrin der »strategischen Tiefe«, der Gewinnung eines freundlichen Hinterlandes an seiner Westgrenze, nämlich Afghanistan, um sich auf die Auseinandersetzung mit Hauptfeind Indien konzentrieren zu können. Pakistans herrschende Generäle warten offenbar auf den Moment, da die internationale Gemeinschaft einem vermeintlich stabilisierten Afghanistan den Rücken kehren wird. Das könnte schon Ende 2004 der Fall sein, nach der USA-Präsidentenwahl.
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