Generalstreik oder Sozialstaatspartei?

Nach der Großdemonstration vom 1. November diskutiert die Protestbewegung, wie es weitergehen soll

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.

Drei Wochen nach der Berliner Demonstration gegen Sozialabbau treibt die Protestbewegung vor allem eines um: Wie soll es weitergehen?

Einer der in den letzten Tagen am häufigsten gesprochenen Sätze in den Reihen der sozialen Protestbewegung dürfte auch der am wenigsten umstrittene gewesen sein: »Die Demonstration am 1. November war ein voller Erfolg.« Beinahe ebenso verbreitet scheint die Auffassung, der Aufzug der Hunderttausend in Berlin könne allenfalls der Anfang gewesen sein. Um die »Agenda 2010, Hartz, Rürup, Gesundheits- und Rentenreform« zu verhindern, heißt es in einem Flugblatt, müsse der Protest weitergehen.
Darüber, wohin die neue Bewegung aus lokalen Arbeitsloseninitiativen, regionalen Gewerkschaftsgruppen, radikalen Linken, Attac-Verbänden und linken Parteien dabei marschiert, gehen die Meinungen indes auseinander. Dabei steht nicht nur die Frage nach dem Umgang mit den großen Gewerkschaftszentralen im Raum. Die hatten den rot-grünen Regierungskurs zwar verbal kritisiert - aber zur zentralen Protestveranstaltung Anfang November nur zögerlich aufgerufen oder es sogar ganz unterlassen. Auch die Art und Weise des Umgangs miteinander, bewegungsdeutsch unter dem Rubrum Bündnispolitik behandelt, könnte dem Erfolg vom 1.November einige Kratzer verpassen.
Auf wenig Gegenliebe vor allem bei kleineren lokalen Organisationen stieß zum Beispiel die Festlegung, am 30. November eine »erste Vorbereitungskonferenz für den europäischen Aktionstag gegen Sozialabbau« abzuhalten. Der Termin, ursprünglich als Auswertungstreffen der deutschen Teilnehmer am Europäischen Sozialforum geplant, war von Attac und Gewerkschaften ohne Absprache in eine solche Vorbereitungskonferenz umfunktioniert worden, lautete eine Kritik.
Eine bundesweite Aktionskonferenz war jedoch bereits im Oktober vereinbart worden - für den 13. Dezember. Dass beide Treffen in Frankfurt (Main) stattfinden sollen, vermag eine Frage nicht zu verdecken: Hängt der zukünftige Erfolg sozialen Widerstandes vor allem von der Beteiligung der großen Gewerkschaften ab, für die man eventuell auch Abstriche bei den politischen Forderungen hinnehmen müsste? Oder versteht sich die Protestbewegung gegen Hartz und Co. in erster Linie als Bündnis »von unten«, gewissermaßen als die politische Selbstermächtigung von Betroffenen, auf die auch viele Linke so lange gewartet hatten?
Inzwischen soll ein dritter Termin die Wogen glätten helfen. Mitte Januar, voraussichtlich am 17.1., könnte eine große Aktionskonferenz mit bis zu 800 Teilnehmern die parallelen Initiativen wieder zusammenführen. Denn so weit auseinander liegt man bei allen Differenzen dann doch nicht. Gemeinsamer Nenner sind die Mobilisierung zu Protesten, die Ablehnung der als Reformen verbrämten Sozialpolitik der »großen Koalition« und der Erhalt von sozialen Sicherungssystemen, heißt es beispielsweise beim Berliner Sozialforum. Dazu hätten sich seit dem 1. November die Bedingungen enorm verbessert.
Darüber indes, ob Demonstrationen gegen den »Sozialkahlschlag« eine ausreichende politische Betätigungsform darstellen, gehen die Meinungen weiter auseinander. Während der Attac-Rat, eines der wichtigsten Gremien des globalisierungskritischen Netzwerkes, Bereitschaft zum Engagement »bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein« sieht, setzen Gruppen wie die »Sozialistische Initiative Voran« (SAV) auf die Kraft eines Generalstreiks. Ob ein solcher im Bündnis mit den deutschen Arbeitnehmerorganisationen die Räder zum Stehen bringen könnte, ist aber mehr als fraglich. Denn in den Gewerkschaftszentralen hält man von der Idee politischer Arbeitskämpfe derzeit wenig. Hans-Jürgen Urban, neuer Chefdenker bei der IG Metall, bezeichnete die Diskussion um den Generalstreik kürzlich als »nicht besonders förderlich«. Die SAV hält dagegen: »Demonstrationen allein werden die Herrschenden kaum umstimmen. Dazu sind Streiks nötig.«
Andere Aktivisten des sozialen Protestes sehen die Alternative hingegen in der Gründung einer neuen Partei. Eine »Sozialstaatspartei«, wurde kürzlich im Diskussionsforum von Attac vorgeschlagen, sei »das einzige, was Politikern wirklich imponiert«. Auf besondere Gegenliebe dürften solche Vorschläge allerdings nicht stoßen. Zu tief scheint der Graben zwischen traditioneller Politik und den neuen sozialen Protestbewegungen.
Das musste kürzlich auch die wegen ihrer Unterstützung der Berliner Demonstration am 1. November durchaus gelobte PDS erfahren. Attac hatte mit Blick auf die Regierungsbeteiligungen der Sozialisten in Berlin und Schwerin sowie die anstehenden Beschlüsse über den Sozialabbau im Bundesrat gefordert, die PDS solle »nicht am Wochenende demonstrieren und in der Woche Sozialabbau durchziehen«. PDS-Vize und Landesminister Wolfgang Methling zeigte sich »verwundert«. Immerhin habe sich seine Partei stets in aller Deutlichkeit gegen die Agenda 2010 positioniert. Von einer Möglichkeit der PDS, die von Rot-Grün bereits beschlossenen Reformen in der Länderkammer noch zu stoppen, könne angesichts der dortigen Machtverhältnisse ohnehin nicht die Rede sein. Nicht zuletzt glaube er, so Methling in einem Brief an Sven Giegold vom Attac-Koordinierungskreis, »dass wir im Kampf gegen Sozialabbau eigentlich auf derselben Seite stehen«.

Protest-Termine

30. November 2003: Vorbereitungstreffen zum Europäischen Aktionstag gegen Sozialabbau, Frankfurt (Main)
13. Dezember 2003: Aktionskonferenz, Frankfurt (Main)
Voraussichtlich Mitte Januar 2004: Aktionskonferenz, in Planung
20. März 2004: Global Action Day gegen den Krieg, europaweit
Voraussichtlich Mitte März: Europäischer Aktionstag gegen Sozialabbau
9. Mai 2004:
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