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  • Politik
  • Freiberger Bürokraten schoben krankes türkisches Kind ohne Operation ab

Ebrus Schicksal

  • Lesedauer: 3 Min.

Ebru Öztürk, geboren am 10. Januar 1986, ist ein lebenslustiges und kontaktfreudiges türkisches Mädchen. Der Vater ist Kurde. Mit ihren Eltern und zwei Geschwistern reiste Ebru im Juli 1991 in die Bundesrepublik ein, ins Land Nordrhein-Westfalen. Die Eltern stellten einen Asylantrag.

Ebru leidet an einer angeborenen linksseitigen Hüftluxation, deshalb erhielt sie im Frühjahr 1992 eine Einweisung in die Heinrich-Heine-Universitätsklinik Düsseldorf. Die Ärzte sagten, das Mädchen müsse operiert werden. Der Termin wurde auf den 6. April 1992 festgelegt.

Ende März verschickten die Behörden die Familie nach Sachsen, über Chemnitz kamen Öztürks nach Borstendorf. Die Familie hatte sich zwar dagegen gewehrt, doch Beamte gaben zur Antwort: „Sie werden doch nicht glauben, im Osten gibt es nicht auch gute Ärzte;“

Ende April 1992 wurde das Kind in der Orthopädischen Klinik Chemnitz vorgestellt. Auch hier die Entscheidung: Die Operation ist notwendig.

Die Lebensbedingungen in Borstendorf waren schlecht: Das Heim liegt im Wald, weitab vom Dorf. Keiner, der tür-

kisch sprach. Das älteste Kind konnte die Schule nicht besuchen. Die Öztürks waren die einzige Familie unter vielen jungen Männern. Deshalb ging die Familie zurück nach Nordrhein-Westfalen. Dort wurde sie nicht wieder aufgenommen. Sachsen war zuständig. Über Chemnitz gelangte Ebru mit ihren Eltern und Geschwistern im Sommer 1992 in das Freiberger Asylbewerberheim.

Auch ein Freiberger Orthopäde bescheinigte Ebrus Krankheit und riet dringend zur Operation. Das Sozialamt im Landratsamt Freiberg lehnte es jedoch ab, die Kosten zu übernehmen. Begründung: Keine Akuterkrankung.

Familie Öztürk widersprach. Der Widerspruch wur-

de am 21. Dezember 1992 zurückgewiesen.

Am 19. Januar 1993 erhoben die Eltern Klage beim Verwaltungsgericht Chemnitz. Die Bestätigung erfolgte am 25. Januar. Das Sozialamt Freiberg stellte einen Klageabweisungsantrag, zu dem Ebrus' Vater Mitte März Stellung nehmen konnte.

Ebru litt seit dem Winter oft unter Schmerzen und konnte dann nur mit Hilfe von Medikamenten schlafen.

Am 12. August ging Frau Öztürk in Begleitung einer deutschen Bekannten zum verantwortlichen Mitarbeiter des Sozialamtes in Freiberg. Die Verständigung mit diesem Herrn war schwierig. Auf Fragen nach einer Entscheidung

zur Operation kamen nur verwaschene Antworten. Ein weiteres Attest, nunmehr das dritte, sollte vorgelegt werden. Das kam am 25. August auf den Tisch des Amtes.

Inzwischen hat sich Ebrus Gesundheitszustand weiter verschlechtert, und eine Operation wird zunehmend schwieriger. Aus diesem Grunde schrieb die Familie nochmals an den Amtsarzt, der bis dahin das Kind überhaupt noch nicht gesehen hatte. Das Ergebnis: Der Leiter des Sozialamtes verwies auf den ausstehenden Gerichtstermin, und der Amtsarzt übergab seinen Brief an den Leiter des Sozialamtes zur weiteren Bearbeitung.

Endlich setzte das Gericht den Verhandlungstermin auf den 30. September an. Aber in der Mittagszeit des 24. September erschien die Ausländerbehörde samt Polizei, um die Familie Öztürk „zwecks Abschiebung“ abzuholen. Die Mädchen wurden von Polizisten aus der Schule geholt, der kleine Sohn im Kindergarten aus dem Mittagsschlaf gerissen. Im März hätte die Familie Öztürk die schriftliche Ablehnung ihres Asylantrags erhalten.

Behördenmühlen mahlen langsam, aber gründlich.

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