nd-aktuell.de / 02.11.1993 / Politik / Seite 5

Unsere tarifpolitischenNerven liegen blank

„Wir spüren den Druck auf die Tarifautonomie an allen Ecken und Enden.“ Für den Tarifexperten der IG Metall Berthold Huber stehen „die Zeichen auf Sturm“. Die Angst um die Tarifautonomie und- die damit verbundene Sorge um den Besitzstand der Arbeitnehmerschaft in Deutschland geht nach Ansicht von Experten einher mit der Befürchtung, die deutsche Gewerkschaftsbewegung könnte - wie andere in Europa - bald zur Geschichte werden.

Jetzt lud der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erstmals als Dachverband zu einer „tarifpolitischen Konferenz“ nach Darmstadt ein. Thema des Treffens: „Gefährdung der Tarifautonomie - Zukunft des Tarifvertragssystems “.

Der IG Bau gelang es zum Beginn der Konferenz mit ih-

rer Bonner Großdemonstration zwar eindrucksvoll Stärke zu zeigen. Doch wie kaum eine andere DGB-Gewerkschaft sieht sie die Tarifautonomie in der Branche akut gefährdet. Bei der größten Einzelgewerkschaft, der IG Metall, sprach Huber von einer bevorstehenden „Entscheidungsschlacht um Erhalt oder tendenziellen Niedergang der Tarif autonomie“. Vorsitzender Klaus Zwickel zeichnet für die bevorstehende Tarifrunde ein düsteres Szenario: Die Arbeitgeber könnten versuchen, die Gewerkschaft mit Kompromißlosigkeit in den Streik zu zwingen, um somit eine Legitimation für Massenaussperrungen zu bekommen. Einer solchen Großauseinandersetzung im ganzen Bundesgebiet wäre die Gewerkschaft nicht gewachsen, wie Huber

klarmachte. „Jede Streikkasse wäre hoffnungslos überfordert.“ Sollte die IG Metall sich gegen Gesamtmetall nicht durchsetzen können, „dann wird das auch auf das Innenverhältnis in der Chemie-Industrie nicht ohne Auswirken bleiben“, erklärte Hans Terbrack von der IG Chemie die Folgen eines Tarifkonfliktes.

Die Arbeitgeber wollen nach Darstellung der Gewerkschaften die Tarifautonomie vor allem in kleineren Branchen untergraben. Dort ist von einer „Flucht der Arbeitgeber aus den Arbeitgeberverbänden“ die Rede. „Es gibt einen unverschämt starken Trend zu Firmentarifverträgen“, berichtete Wolfgang Rohde von der Gewerkschaft Holz und Kunststoff.

Doch der Gefährdung der Tarif autonomie durch die Ar-

beitgeber steht nach Ansicht der Gewerkschaften eine drohende „Auflösung der Tarifautonomie von unten“ gegenüber. Die Konkurrenz unter den um ihren Arbeitsplatz besorgten Arbeitnehmern führe zu einer tendenziellen Bereitschaft, die Tarifverträge durch interne Betriebsvereinbarungen zu unterlaufen, sagte Huber. Bei der IG Chemie hieß es dazu, die Argumentation der Arbeitgeber, höhere Löhne kosten mehr Arbeitsplätze, verfange in den Betrieben.

Deutlich wurde in Darmstadt, daß die deutschen Gewerkschaften an einem kritischen Punkt stehen. „Unsere tarifpolitischen Nerven liegen blank“, erklärte IG Bau-Experte Peter Müller nicht nur mit Blick auf seine Branche.

ANDREA LENTZ, Reuter