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Wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren

Aus Brüssel berichtet UWE KALBE

  • Lesedauer: 4 Min.

Als sich die NATO vor knapp zwei Jahren selbst die Legitimation verlieh, weltweit für Demokratie und Freiheit ins Feld zu ziehen, tat sie das weniger in der Absicht, zum Weltpolizisten zu avancieren. Dies ist zwar nicht gänzlich auszuschließen - vor allem aber ging es zunächst um Legitimation überhaupt. Geschaffen für eine bipolare Welt, mußte die Allianz auf deren Auflösung reagieren.

Doch tausendfaches Sterben nur einige Flugstunden vom Brüsseler Hauptquartier entfernt - im früheren Jugoslawien - vermochte in der Zentrale bisher nur einen dünnen Weckruf hervorzubringen. Einsatzpläne sind erarbeitet und an die UNO übermittelt - doch mehr nicht.

So wie der EG-Sondergipfel am Wochenende unter dem Gewicht interner Probleme lediglich vage Andeutungen eigenen Engagements für das frühere Jugoslawien verlor, kann auch die NATO nicht über ihren Schatten springen. Sie hat zudem auf dem Balkan

wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren.

NATO-Beamte halten der Allianz gar zugute, daß sie den Fall Jugoslawien (bisher) ohne Brüche überstanden hat. Tatsächlich sind die Konfliktparteien auf dem Balkan Sympathie- und Interessenträger verschiedener Mächte, die ohne NATO-Bündnisressentiments ganz verschiedene Süppchen kochen würden. Schon bisher ist so manche Zutat in den siedenden Kessel gefallen, die längst nicht nach dem Geschmack aller Verbündeten war (Anerkennungsdruck Deutschlands für Slowenien und Kroatien, türkische Forderung nach Aufhebung des Waffenembargos für die Moslems).

Der Probleme sind weit mehr. Streit um die notwendige Veränderung von Kommandostrukturen, wessen Kompetenzen sind berührt? Wer bezahlt das Ganze? Wie sind die Beziehungen zu den Hilfsorganisationen vor Ort zu regeln? Außerdem: Französische, britische und kanadische

Soldaten, in humanitärer Mission bereits unterwegs, könnten jede Unüberlegtheit leicht mit dem eigenen Leben bezahlen. Die Rache vor Ort würde zuerst sie treffen. Und jeder Mißerfolg ist in jedem Land jeweils vor Öffentlichkeit und Opposition zu begründen. Die jüngste interne Verstimmung vor dem Treffen der Verteidigungsminister in Travemünde spricht Bände. Die geplanten 50 000 US-Soldaten für einen Bosnien-Einsatz, die Hälfte der vorgesehenen Kräfte, waren dem Kongreß unter dem Eindruck Somalias zu viel. Und die Europäer standen vor der Frage: Wer sollte dann die Löcher stopfen?

Von der Überparteilichkeit jedes Engagements im früheren Jugoslawien, so meint man in Brüssel, hänge Wohl und Wehe seines Ausgangs ab. Bündnispartner wie Deutschland, die Türkei oder Griechenland sind allein deshalb von vornherein aus dem Rennen, sollte man meinen. Geschichtliche und religiöse Verwandtschaften und Feind-

schaften verbieten eigentlich ihr Auftauchen vor Ort. Was Ankara nicht zurückgehalten hat, Truppen anzubieten, und was auch Gerüchte nicht verstummen läßt, Bonn plane die Entsendung von wenigstens Sanitätssoldaten und einigen Stabsoffizieren. Und obwohl Bonn demonstrativ die Hände hebt, was Truppen vor Ort betrifft, stellte man in der deutschen Vertretung in Brüssel klar, daß die Übernahme von Transport-, Nachschub und Kommunikationsaufgaben außer Frage steht. Die Amerikaner haben den Golfkrieg auch nicht allein geführt...

Im militärischen Hauptquartier in Mons spricht man in einer Mischung aus Mitleid und Verachtung von der „Inkompetenz“ derUNO-Verantwortlichen. Sie habe dafür gesorgt, daß das über Regionen Bosnien-Herzegowinas verhängte Flugverbot zur Farce geworden ist. Zornig zeigt man auf die Resolution des Sicherheitsrats 836, die jeden Abschuß von einer schriftlichen Erlaubnis des UN-

Hauptquartiers in New York abhängig mache.

Als Voraussetzungen eines kollektiven Truppeneinsatzes werden in Brüssel genannt: Ein von allen Bürgerkriegsparteien beschlossener Friedensplan, ein klares Mandat der ÜNO und der eigene Oberbefehl über die Mission. Das Mandat muß die Zielstellung abgrenzen und nicht zuletzt die Frage beantworten: Wie und wann kommen wir da wieder raus? Andersherum: Es muß die nötige Übereinstimmung in der NATO selbst schaffen. Moralische Legitimation, Akzeptanz durch die einheimischen Kriegsparteien, Zustimmung und möglichst Beteiligung des Sicherheitsratsmitglieds Rußland alles risikomindernde Faktoren gegen den Fall eines Scheiterns. Das Restrisiko ist hoch genug.

Eigentlich paradox: So wenig das Feld Ex-Jugoslawien tatsächlich geeignet scheint, daß sich die NATO auf ihm beweise, so sehr könnte es zum Prüfstein für sie werden.

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