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  • Wirtschaft und Umwelt
  • Mit Maastrichter Vertrag könnte in Sozialpolitik „neue Beweglichkeit“ kommen - ohne die Briten

Die EG der zwei (sozialen) Geschwindigkeiten

  • CHRISTIAN RATH
  • Lesedauer: 4 Min.

Bislang galt die EG-Sozialpolitik eher als Stiefkind des Integrationsprozesses. Das könnte nun anders werden. Dem gestern in Kraft getretenen Maastrichter Vertrag ist nämlich ein Sozialabkommen beigefügt, das für zahlreiche Bereiche der Sozialpolitik die Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit zuläßt. Bisher war dagegen generell (außer beim Arbeitsschutz) Einstimmigkeit vorgeschrieben. Ein einziges Land konnte so die ganze Gemeinschaft an der Rechtssetzung hindern. In den 80er Jahren waren dies vor allem die Briten.

Großbritanniens Premier John Major hatte daher vor der Maastrichter Gipfelkonferenz signalisiert, daß mit ihm die „neue Beweglichkeit“ nicht zu machen sei. Um überhaupt zu Fortschritten in der Sozialpolitik zu kommen, verfielen die Regierungschefs auf einen Trick. In einem Protokoll zum Maastrichter Vertrag erklärten die zwölf Mitgliedstaaten (also auch die Briten), daß in der Sozialpolitik elf Mitgliedstaaten (ohne die Briten) voranschreiten dürfen. Hier wurde also eine „EG der zwei Geschwindigkeiten“ ausdrücklich festgeschrieben. Wenn EG-Rechtssetzungsakte auf das „Abkommen der Elf“ gestützt werden sollen, dürfen die Briten im Ministerrat nicht mitstimmen. Dann haben die Beschlüsse auch auf der Insel keine Geltung.

Fast wäre es der britischen Labour Party im Sommer dieses Jahres noch gelungen, einen nachträglichen Beitritt Großbritanniens zu dem So-

zialabkommen zu erzwingen. Einige europafeindliche Abweichler der regierenden Konservativen wollten hier mit der Labour-Opposition stimmen, um der Regierung das Maastrichter Gesamtpaket zu vergällen. Doch Major gelang es in letzter Sekunde, seine Partei auf Linie zu bringen.

Im bundesdeutschen Arbeitsministerium will man die neue Rechtslage nur vorsichtig ausnützen. Bevor das neue Abkommen angewandt werde, sollte immer erst eine einvernehmliche Lösung unter Einschluß der Briten gesucht werden. Erst wenn die Briten eine sozialpolitische EG-Maßnahme definitiv ablehnen, müsse man unter den elf handeln.

Beim derzeitigen „Herzstück“ der EG-Sozialpolitik, der Richtlinie über die Einführung Europäischer Betriebsrate, wird dies bald der Fall sein. In multinationalen Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten soll, so der Inhalt des Kommissions-

vorschlages, ein Euro-Betriebsrat nicht nur über Lage und Strategie der Firma unterrichtet, sondern auch vor wichtigen Entscheidungen gehört werden. Die Briten, die das Projekt bereits seit langem blockieren, haben bei der Sitzung der zwölf Sozialminister Anfang Oktober ihre endgültige Ablehnung signalisiert. Damit ist der Weg frei für das neue Reglement.

Wie schnell die Europäischen Betriebsräte dann eingeführt werden können, hängt allerdings auch von den Sozialpartnern auf EG-Ebene ab. Das neue Sozialabkommen sieht nämlich vor, daß der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und der Verband der privaten Arbeitgeber (UNICE) das Rechtssetzungsverfahren stoppen können, um selbst eine Regelung zu dieser Frage auszuhandeln. Damit ist allerdings kaum zu rechnen.

Klargestellt hat das Abkommen, daß auf EG-Ebene allein sozialpolitische Mindestanforderungen beschlossen werden können. Will ein Mitgliedsstaat strengere Schutzmaßnahmen beibehalten oder einführen, ist dies ohne weiteres möglich. Eine Angleichung der Sozialstandards auf niedrigem Niveau ist dank der effizienteren EG-Befugnisse also nicht zu befürchten.

Teilweise gehen die EG-Anforderungen sogar über das deutsche Sozialniveau hinaus. Die EG-Arbeitszeitrichtlinie etwa, die kurz vor der Verabschiedung steht, schreibt mindestens vier Wochen Jahresurlaub vor. Auf bundesdeutscher Ebene waren bislang nur drei Wochen gesetzlicher Standard. Da die Zahl der tariffreien Unternehmen, insbesondere in Ostdeutschland, zunimmt, gewinnen derartige gesetzliche Mindestregelungen durchaus an Gewicht.

Relevant sind aber auch EG-Mindestanforderungen, die die Standards in anderen EG-Staaten dem deutschen Niveau annähern. Denn dabei verteuern sich die Produktionskosten der Konkurrenz, und die Gefahr des „Sozialdumpings“ verringert sich.

Mit derartigen Maßnahmen versucht die EG den Verdacht auszuräumen, nur ein „Europa der Konzerne“ zu schaffen. Ob ihr dies allerdings gelingt, hängt nicht zuletzt von den Regierungen der Mitgliedstaaten ab. Diese können sich im Ministerrat nun nicht mehr hinter den Briten verstecken.

Mehrheitsentscheidungen sind allerdings auch nach dem Sozialabkommen nur in bestimmten Bereichen der Sozialpolitik möglich. Neben der Unterrichtung und Anhörung

der Arbeitnehmer zählt das Abkommen dazu folgendes auf: Chancengleichheit' von Männern und Frauen, Eingliederung von Arbeitslosen, Arbeitsschutz sowie Arbeitsbedingungen. Einstimmigkeit ist dagegen auch zukünftig in so wichtigen Fragen erforderlich wie beim Kündigungsschutz, den Arbeitsbedingungen von Nicht-EG-Ausländern, Interessenvertretung und Mitbestimmung, Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung sowie beim sozialen Schutz (Sozialversicherung, Sozialhilfe und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall). Möglich ist aber auch hier ein Vorgehen der „Elf“ ohne die Briten. Ausgeschlossen sind EG-Befugnisse schließlich bezüglich Lohnregelungen und im Koalitionsrecht inklusive Streik und Aussperrung.

Der seit knapp einem Jahr amtierende neue EG-Sozial-Kommissar Padraig Flynn, ein konservativer Ire, hat der EG erst einmal eine Orientierungsphase verordnet. Ende des Jahres wird ein „Grünbuch“ der Kommission erscheinen, das verschiedene Szenarien der sozialpolitischen Entwicklung zur Diskussion stellt. Ein Weißbuch mit konkreten Kommissions-Vorschlägen soll erst mit gehörigem Abstand folgen.

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