nd-aktuell.de / 02.11.1993 / Politik / Seite 11

General Prävention verfassungswidrig?

Heute werden diese zum Teil Jahre zurückliegenden Vergehen benutzt, möglichst viele ehemalige Vertragsarbeiter ausweisen zu können. Mit massiven und brutalen Razzien erhöhte die Polizei in den vergangenen Monaten die

Zahl derer, denen irgendwelche Gesetzesvertstöße nachgewiesen werden können. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel wird dabei von vielen Experten angezweifelt. Der Berliner Rechtsanwalt Martin Rubbers, der etliche ehemalige Vertragsarbeiter unter seinen Mandanten hat, sieht das auch so: „In vielen Fällen wird die Ausweisung nur damit begründet, daß generalpräventiv andere Täter abgeschreckt werden müßten, weil der Zigarettenverkatf so große Ausmaße angenommen habe. Das berücksichtigt überhaupt nicht den einzelnen, der vielleicht vor zwei oder drei Jahren mal etwas verkauft hat -Bagatellstraftateh in der Regel. Die anderen Gründe, die mitgeliefert werden, würden für sich genommen keine Ausweisung tragen. Das verstößt meiner Meinung nach gegen die Verfassung und gegen die Menschenwürde. Die Ausländer werden zum Objekt staatlichen Handelns gemacht nach dem Motto: Wir schmei-ßen euch 'raus, damit andere aufhören zu verkaufen.“

Rubbers fordert nicht nur die Verlängerung der Bleiberechtsregelung, sondern auch eine „Amnestie“ für wendebedingte Bagatelldelikte, wie den Handel mit unversteuerten Zigaretten. Auch die Berliner Beratungsstellen verlangen das. Bei Gesetzesverstö-ßen müssen, heißt es in einem Aktionspapier, „die soziale Lage und materielle Notsituation berücksichtigt werden“ Die Verstöße seien eine „Folge des langandauerhden staatlichen Versäumnisses einer klaren Regelung der aufenthalts-, arbeitserlaubnis- und sozial-

rechtlichen Sicherung Vertragsarbeitnehmer “.

Ob es am 17 Dezember zu Massenabschiebungen kommen wird, ist allerdings fraglich. Selbst wenn die Frist zu diesem Termin ausläuft, können die Vietnamesen, die den allergrößten Teil der ehemaligen Vertragsarbeiter ausmachen, wahrscheinlich nicht abgeschoben werden. Zur Zeit weigert sich Vietnam nämlich, Menschen aufzunehmen, die offensichtlich nicht aus freien Stücken kommen, sondern zwangsweise aus Deutschland abgeschoben werden. Das können die vietnamesischen

Behörden an dem Stempel erkennen, der Ausländern in den Paß gedrückt wird und mit dem sie zur Ausreise aufgefordert werden. Diesen Zustand bestätigt auch der Berliner Innensenator. Allerdings werde man die Praxis, den Paß mit Stempeln zu versehen, nicht einstellen, erklärte dessen Sprecher Schmidt gegenüber ND Da müsse das Auswärtige Amt noch einmal mit Vietnam verhandeln; schließlich beziehe Vietnam ja Entwicklungshilfe von Deutschland...