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Was blieb, sind fünfBlatt Papier

  • NATALJA MUSSIENKOund HOLGER DEHL, Moskau
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Gebrüder Huth: Johannes (geb. 1908), Paul (geb. 1913) und Bernhard (geb. 1916); Aufnahmt vom Tag der Ermordung: 28. Februar 1938

waren. In einem eigens zur Unterbringung der Arbeiter des Elektrowerkes 1930 gebauten Haus in der Straße Matrosskaja tischina (Matrosenstille), in der Nr. 16 a, bezog die Familie Huth eine kleine Wohnung. In derselben Straße stand (und steht heute noch) ein Gefängnis. Karl erinnert sich, wie er als kleiner Junge mit Altersgefährten auf den Dachboden des Hauses stieg und durch die Fensterluke auf den Gefängnishof sah, in dem die Häftlinge monoton ihre Runden drehten. Später seien die Fenster mit Brettern vernagelt worden, erzählt er. Daß sieben Jahre später sein Bruder Johannes in eben diesem Gefängnis gegenüber inhaftiert sein würde, hat der damals Zehnjärige nicht ahnen können.

Die Huths galten im Werk* als Aktivisten. Die Werkszeitung „Einholen - überholen“, die im übrigen auch eine spezielle deutsche Beilage hatte (das „Deutsche Blättchen“), bildete auf einem ihrer Titelblätter Johannes Huth hinter seiner Werkbank ab. In einem Buch, „Berliner Proletarier erzählen“, 1933 vom „Berufsverlag“ herausgegeben, wird Familie Huth als „glückliche und beispielgebende Keimzelle der neuen Gesellschaft“ beschrieben: „Nehmen wir die Familie Huth. Alfons Huth' -Schleifer. Er ist ein gewissenhafter, energischer Arbeiter, der viele Neuerungsvorschläge einbrachte, die zu erheblichen Einsparungen führten. Er nimmt aktiv am gesellschaftlichen Leben teil, arbeitet in der Internationalen Arbeiterhilfe mit. Familie Huth besteht aus sieben Mitgliedern. Die Mutter ist Hausfrau, (zwei, d. A.) Söhne arbeiten in unserem Werk... Die jüngsten besuchen die Schule, wobei einer an der medizinischen Fachhochschule studieren und Arzt werden will... Da sollte man den Vergleich zu Deutschland ziehen. Es wäre schlicht und einfach unmöglich, daß alle Familienmitglieder arbeiten. Und hätten die Kinder dieses Arbeiters solche Zukunftschancen? Natürlich nicht. Arbeitslosigkeit und ökonomische Krise würden das Leben dieser Familie zersetzen.“

In der Tat halfen die Angebote der Sowjetunion damals vielen Arbeitslosen aus dem Westen. Und in der Tat wurde den ausländischen Arbeitern und ihren Familien in der

UdSSR große Aufmerksamkeit geschenkt. Johannes Huth wurde Konstrukteur, seine Brüder Paul und Bruno konnten in Odessa die Medizinische Fachhochschule besuchen.

Karl besuchte die Karl-Liebknecht-Schule in Moskau.

Natürlich lebten die Huth nicht in üppigen Verhältnissen. Das störte sie jedoch nicht. Sie waren bescheidene Menschen und fühlten sich wohl in der Sowjetunion, die ihnen zur politischen Heimat wurde. Als 1935 das .Paßsystem in der UdSSR eingeführt wurde, nahmen die Huths sogleich die -sowjetische Staatsbürgerschaft an.

Die Frau von Johannes, dem ältesten der Huth-Gebrüder, Luisa Gebel, erinnert sich: „1934 ging ich oft in den Klub ausländischer Arbeiter, wo ich im Chor sang. Als ich einmal mit meiner Freundin zur Probe kam, wandte sich ein junger deutscher Arbeiter an uns mit der unschuldigen Frage: Wie spät ist es? So begann ein Gespräch, und wir lernten uns kennen. Johannes sprach schlecht russisch, und wir gingen zum Deutschen über. Ich erzählte ihm, daß ich ebenfalls Deutsche (Rußlanddeutsche) bin, daß ich die deutsche Schule in Saratow besucht und dann eine Zeitlang bei Verwandten in Weimar gelebt hatte.“ Weiter berichtet Luisa Gebel, die noch heute in Moskau lebt: „Johannes und ich waren zwei Jahre zusammen, im dritten heirateten wir. Zu Hause segnete uns der Pastor Streck, der letzte von der protestantischen Peter-Pauls-Kirche in Moskau. (Er wurde 1938 in den Folterkammern des NKWD zu Tode gequält, d. A.) Die Emigranten lebten hier nicht üppig. Mein Mann besaß einen alten Anzug und fast keine Unterwäsche. Vom Lohn mußte für Schuhwerk und die nötigste Kleidung gespart werden. Bescheiden stand es auch mit der Verpflegung. Die Luft und die Stimmung in unserer kleinen Dreiraumwohnung waren stickig. Darüber klagte natürlich niemand.“

Andere Deutsche allerdings waren enttäuscht und verlie-ßen das Land bald wieder. Auch einige Arbeitskollegen von Alfons und Johannes Huth. In der Betriebszeitung des Elektrowerkes findet sich

darüber ein Artikel; .„InuZusammenhang mit unserer, politischen Arbeit bedarf der Fakt, daß dreißig unserer Arbeiter nach Deutschland zurückgekehrt sind, einer Auswertung. Liegt das nicht an den Fehlern und Unzulänglichkeiten unserer Parteiarbeit? Ich denke, das ist nicht der Fall. Wir organisierten politische Zirkel, Versammlungen, Vorträge. Außerdem konnte jeder die Abendkurse der ,Westuniversität' (Kommunistische Universität der nationalen Minderheiten des Westens in Moskau) besuchen... Besonders bezeichnend ist die Tasache, daß alle nach Deutschland zurückgekehrten Kollegen sofort zu unseren Feinden überliefen. So wurden beispielsweise Branski und Karl Lamprecht Mitglieder der nationalsozialistischen Partei. Laugsch verschärft im Auftrage der Gewerkschaftsorganisation die Hetzjagd gegen Sowjetrußland. Es stellt sich die Frage nach den Überzeugungen dieser und anderer ehemaliger Genossen...“

Die Motive für die Rückkehr mögen sehr verschieden gewesen sein. Vielleicht ahnten einige das Herannahen der schlimmen Zeit? Karl Huth erinnert sich, daß ein deutscher Nachbar vor seiner Rückreise nach Deutschland zum Vater gesagt hatte: „Hab acht, den Letzten beißen die Hunde! “Doch der Vater, der Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht noch persönlich gekannt und sich an so manchen Klassenkämpfen in der Weimarer Republik beteiligt hatte, sah das anders. Zudem: In Deutschland hatten mittlerweile die Nazis ihr terroristisches Regime errichtet. Für ihn gab es kein Zurück.

Das Unheil indes nahte heran. Anfang 1938 wurde in Moskau ein Prozeß gegen eine angeblich von deutschen Emigranten geschaffene Organisation „Deutsche Hitlerjugend“ angestrengt. Im Entwurf der Anklageschrift hatte die Organisation zunächst „Hakenkreuz“ geheißen, doch dann entschieden sich die NKWD-Behörden für den Namen „Hitlerjugend“. Etwa 90 junge Deutsche wurden in den perfiden Prozeß verwickelt. Beweise brauchte es für die „Ermittler“ nicht - es genügte die Behauptung. Auch die vier

Huth-Brüder, wurden willkürlich als ,;Hi£ler-Jungen“'abgestempelt. Am 29. Januar 1938 wurde Paul Huth abgeholt, am 2. Februar 1 Bernhard, dann Johannes; und zuletzt, am 9. Oktober, wurde auch Bruno in Odessa verhaftet. Nur Karl, ein Kind noch, blieb verschont.

Luisa Gebel erinnert sich an die Verhaftung ihres Mannes. Die beiden NKWD-Beamten, die Johannes eines Nachts abholten, versicherten, er brauche keine Sachen mitzunehmen, würde nur zum Verhör geholt und bald wieder zurückkehren. Doch Luisa Gebel sollte ihren Mann nie mehr wiedersehen. Man teilte ihr später lakonisch mit, daß Johannes Huth nach Paragraph 58, Abs. 10, wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ zu zehn Jahren Kerkerhaft verurteilt worden und ihm auch jeder Briefwechsel verboten sei...

Wie Recherchen in ehemaligen KGB-Akten ergaben, wurden alle drei Brüder nur wenige Wochen' nach ihrer Verhaftung, am 28. Februar 1938, in Butowo erschossen. Am 17. Oktober erlitt Bruno in Odessa das gleiche Schicksal. Im September 1940 wurde der Vater verhaftet. Karl erinnert sich, daß der Vater den Schmerz und das Entsetzen über die Verhaftung seiner vier Söhne vor den Kollegen nicht verbergen konnte. Der damals 62jährige wurde zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt. Er kehrte nicht mehr zurück. Unter welchen Umständen er starb, ist nicht bekannt. Die Mutter wurde nach Sibirien ausgewiesen. Sie starb dort an Hunger. Das einzige, was Karl in Erinnerung an seine Familie blieb, sind fünf Blatt Papier: die Rehabilitierungsbescheinigungen für seine Eltern und seine Gebrüder, ausgestellt in den 50er Jahren.

Zum Abschluß unseres Gesprächs zitiert Karl Huth ein Gedicht, das er noch in Berlin in der Schule hatte auswendig lernen müssen: „Wohin ich wand're durch die Welt, weit über Meer und Land, der Ort sich frisch im Herzen hält, wo uns're Wiege stand. Ja, käm's Berliner Kind hinaus ins Glückland ohne Weh, es kehrt zurück zur Vaterstadt am grünen Strand der,Spree...“

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