Eine letzte Frist?

Zeitschrift »neue deutsche literatur« steht vor dem Aus

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.
Anfang des Jahres schrieb ich an dieser Stelle einen Geburtstagsglückwunsch. Die »neue deutsche literatur«, eine der traditionsreichsten deutschen Literaturzeitschriften, wurde fünfzig! Ein Glückwunsch für 550 Hefte, die Literatur jenseits der Bestsellerlisten, in immer wieder neuen und überraschenden Verbindungen präsentierten. Eine Literaturwerkstatt im besten Sinne! Hunderte Autoren (von Anfang an immer zugleich aus Ost und West!) haben hier publiziert, debütiert. In die Freude, dass ndl die schwierigen Nachwendejahre (auch Dank Aufbau-Verleger Lunkewitz, der sie subventionierte) überstanden hatte, mischte sich zunehmend Sorge. Die Zeiten sind schlecht geblieben für Qualität, die Geld kostet und wenig einbringt. Die Auflage sinkt, gut 2000 Abonnenten sind wenig, aber nicht wenig genug, die ndl ganz eingehen zu lassen. Viele ehemalige Leser wissen bis heute nicht, dass es die Zeitschrift überhaupt noch gibt. Wie früher an Zeitungskiosken findet man sie nicht mehr, nur in Buchläden. Wie oft wünschte man sich wirkungsvolle Werbekampagnen. Aber die blieben aus. Der Glückwunsch wurde so auch zum Durchhaltetext. Die Verwunderung: Warum eigentlich feierte der Verlag das ndl-Jubiläum so gar nicht? Jetzt wissen wir es: Aufbau will die ndlnicht länger subventionieren. Sie muss - wenn nicht noch ein Retter am Horizont erscheint - mit dem im Druck befindlichen Heft 1/2004 ihr Erscheinen einstellen. Danach soll noch in zwei Nummern die von dem langjährigen Redaktionsmitglied Achim Roscher erarbeitete ndl-Chronik (die im Frühjahr aus Kostengründen unter den Tisch fiel) erscheinen und dann wird - im 52. Jahrgang nach 555 Heften - auch dieses literarische Kleinod zum »abgeschlossenen Sammelgebiet«. Lange hat sie durchgehalten, länger als manch einer vor dreizehn Jahren es glauben mochte, als die Zeitschrift, dahin vom DDR-Schriftstellerverband herausgegeben, plötzlich obdachlos wurde. Nun also die Chronik eines lang angekündigten Todes? Nein, noch kein Nachruf! Noch ist Hoffnung, auch wenn sie nur nagelgroß ist, wie es bei Mörike heißt. Es macht allerdings zornig zu sehen, wie Aufbau in seinem zu ihm gehörigen Gustav Kiepenheuer Verlag den Effenberg-Skandalreport herausbringt, ihn mit viel Geld auf den Markt zu drücken versucht - und, so hört man, sich dabei auch noch verspekuliert hat. Muss wegen der »literarischen« Eintagsfliege Effenberg jetzt die ndl dran glauben? Es wäre zu makaber. Zuerst also müssen wir - und auch der Aufbau-Verlag - klären, was uns wichtig ist. Dann können wir darüber reden, ob und wie wir es finanzieren wollen. Glücklicherweise hat die ndl einen Beirat. Und dessen prominente Mitglieder sollen die Zeitschrift mit ihrem Namen nicht nur schmücken, sondern im Notfall auch schützen! Dem Beirat gehören an: Friedrich Dieckmann, Jörg Drews, Peter Härtling, Christoph Hein, Adolf Muschg und Christa Wolf. Warten wir also ab - aber nicht zu lange. Zahlenvergleiche hinken ja immer. Der Anschaulichkeit halber sollte man es sich jedoch einmal vorstellen: Wenn die Bundesanstalt für Arbeit mal so nebenbei für »Medienberatung« 1,3 Millionen Euro ausgeben wollte, dann wäre das exakt die Summe gewesen, die die Existenz der ndl25 Jahre lang gesichert hätte! Zu den gegenwärtigen Konditionen, inklusive einem Redakteur und den gewohnt bescheidenen Autorenhonoraren. Wenn die Zeitschrift gewollt ist und gebraucht wird, werden sich auch Wege finden, sie zu erhalten. Verleger Lunkewitz steht in der Pflicht, zusammen mit Redaktion und Beirat eine praktikable Lösung zu finden, die ein Weitererscheinen ermöglicht. Konzeption, Umfang und Gestaltung des Hefts - alles ist offen. Nur einfach abhaken, das geht nicht. Und Lunkewitz, der lange darum gekämpft hat, das Image des Immobilien-Zockers loszuwerden und versucht hat, sich das eines Buchmenschen zu erarbeiten (mit durchaus schönen Einzelbeispielen wie den Klemperer-Tagebüchern) sollte sich sehr überlegen, ob er dies alles mit einem Schlag wieder umstoßen will. Die große Frage ist, sind Literaturzeitschriften ein Auslaufmodell, wie sich das Medienberatung vorstellt? Brauchen wir keine Qualität mehr jenseits des Mainstreams, keine Foren für Experimentelles, für nachdenkliche Essays? Ich brauche die ndl, als Leser und Autor. Auch wenn dort so wenig zu verdienen ist wie beim Neuen Deutschland. Seit ich 1992 regelmäßig dort zu publizieren begann, spüre ich diesen besonderen Literaturraum, der nicht mit Geld zu bezahlen ist. Eine geistige Schule, allein durch ihren geschichtlichen Rahmen. Die Aufzählung der wichtigen Namen, die hier veröffentlichen, sie dauerte hier zu lange. Sinnbildlich: In den Anfängen standen etwa Gerhard Wolf und Marcel Reich-Ranicki (hier noch als Marceli Ranicki) in einem Heft nebeneinander. Um diesen Spannungsbogen, um den Widerstreit in jedem Heft neu, bemüht sich die ndl bis heute. Die 90er Jahre mit ihrer Ideologie der Spaß-Gesellschaft, einer entpolitisierten Jugend, sie waren auch schlecht für Zeitschriften, die von ihren Lesern verlangten, sich nicht bloß unterhalten zu lassen (das auch, aber nicht nur). Wenn mich nicht alles trügt, ist das Bedürfnis nach geistiger Kontur, nach Ernst und Tiefe wieder gewachsen. Die protestierenden Studenten lernen es gerade sehr schnell: Wer um seine Rechte kämpft, der muss sich auch artikulieren können und braucht einen theoretischen Hintergrund. Das könnte zum Beginn einer Renaissance der Zeitschrift als Form zwischen Buch und Zeitung werden. Der Essay als nicht nur literarische, sondern - zumindest indirekt - immer auch gesellschaftliche Versuchsanordnung. Er konfrontiert die ausrechenbare Wirklichkeit mit einem anderen Realitätsbegriff: der Möglichkeit. Allerdings ist eine Literaturzeitschrift kein Flugblatt; sie ist viel mehr: unruhig-anarchistische Flugschrift und geduldige Flaschenpost in einem. Wir brauchen sie als Laboratorien des Unzeitgemäßen. Sie sind utopische Inseln des Gestern und Morgen im Heute. Ihre Langsamkeit bezeugt das Haltbare inmitten von unhaltbaren Zuständen: Gedicht ist komprimiertestes Menschsein. Ausgerechnet jetzt die so lange mühsam von allen (auch von Verleger Lunkewitz) erhaltene »neue deutsche literatur« wegwerfen zu wollen, wäre töricht. Wichtiger ist, ihr Profil zu schärfen, sie noch stärker aktuellen Debatten zu öffnen. Da erweist es sich nachträglich als Fehler, die ndlüberhaupt so weit heruntergespart zu haben, dass sie nun so leicht übersehen werden kann. 1995, mit dem Heft 500, verabschiedete sich die verbliebene Zwei-Mann-Redaktion (Achim Roscher und Christian Löser). Nur noch ein Redakteur, der akribische Literaturarbeiter Jürgen Engler, betreut seitdem die ndl. Der Erscheinungsturnus wurde geändert, die Monatszeitschrift zur Zweimonatszeitschrift. So ließ es sich noch schwerer auf aktuelle Ereignisse reagieren. Bücher und Zeitschriften brauchen Käufer. Wenn niemand mehr zehn Euro für eine Literaturzeitschrift auszugeben bereit ist, dann kann diese auf Dauer eben nicht existieren. Und die gleichen Stimmen, die immer sofort rufen, früher in der DDR war das doch alles möglich, die müssen sich fragen lassen, wo heute etwa ihr ndl-Sinn und Form- oder Magazin-Abo ist, das so dringend notwendig wäre. Gibt es also ein mehrheitliches Einverständnis mit der zunehmenden Verdummung durch immer trivialere Unterhaltung, oder existieren echte kulturelle Bedürfnisse, für die man etwas zu tun (Opfer zu bringen!) bereit ist? Ab welcher Größenordnung lohnt es sich, ein Buch zu verlegen, ein Theater zu betreiben oder eine Zeitschrift herauszugeben? Das sollte man klären, bevor man etwas wegwirft. Eines stand übrigens nie in Frage: die Qualität der neuen deutschen literatur. Und für Werbung und Verkauf gibt es doch angeblich so viele Spezialisten. Warum machen die denn bei Aufbau alle einen Bogen um die ndl? Als am 6. Juli 1993 wie gewohnt die Weltbühne erschien, war ich zufällig Autor dieses Heftes. Nach Redaktionsschluss schob Bernd F. Lunkewitz als Verleger eine Erklärung ins Heft, die die sofortige Einstellung zu begründen versuchte. Ich war ungewollt in ein historisches Heft geraten. Auch im Heft 1/2004 der ndlsteht ein Text von mir - u...

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