nd-aktuell.de / 31.12.1993 / Kommentare / Seite 10

Zerstörerische Lust?

Schon der erste Satz in dem Artikel von Michael Brie (ND-Forum vom 11./12. Dezember) bringt mich dazu, mich wieder einmal zu fragen, wo die selbstzerstörerische Grenze zwischen Leuten liegt, die unter dem Begriff „Linke“ subsumiert werden können. Zerstörerisch weil einer (in diesem Falle Heinz Jung, ND-Forum vom 4./5. Dezember), dem attestiert wird, daß ihm „die wirkliche Analyse der Vergangenheit fehlt“, sich auf den „Misthaufen der Geschichte“ geworfen sehen müßte. Ich frage mich, welche Intentionen hinter einem dergestalten Umgang stehen.

Michael Brie behauptet, daß die DDR „ökonomisch am Ende“ und überhaupt „dieser Typ von Sozialismus nicht mehr verteidigungswert“ war. Er befindet sich damit in dem Chor von DDR-Ökonomen, die ihre unfreiwillig gewonnene, endlose Freizeit damit ausfüllen, immer-wieder ein weiteres Mosaiksteinchen in das Bild des „wirtschaftlichen Scheiterns der DDR“ (Harry Nick, ND vom 13. Dezember) einzusetzen. Ich kann und will mich nicht detailliert mit diesem Problem, das ja für fast alle dieser „Weisen“ kein Problem, sondern eine unwiderlegbare Tatsache ist, auseinandersetzen. Aber ich kann einfach nicht einsehen, daß ein Wirtschaftssystem als erstrebenswert dargestellt wird, das „nach dem bewußten Bruch mit dem Staatssozialismus“ auf „Markt- und soziale Regulierung“ setzt. Das sind im Grunde dieselben Sprüche, die unter der Firmierung „Soziale Marktwirtschaft“ die wirklichen Machtverhältmisse im Kapitalismus bis heute erfolgreich verschleiern. Mit welchen „kompetenten“ Analysen könnte die Beibehaltung eines Systems begründet werden, das zu Massenarbeitslosigkeit, Massenarmut, horrender Staatsverschuldung und, und, und führt?

Es kann also nicht die abstrakt ökonomische Überlegenheit sein, die dieses (im wahren Sinne des Wortes) unmenschliche System kennzeichnet. Die zur Begründung angeführten Parameter, wie die hohe Arbeitsproduktivität, können nicht allein die unbestreitbare Attraktivität erklären. Entscheidend ist, daß es für die in unendlich langer, christlicher Tradition zum Ellenbogen-Gebräuchen verbogenen Menschen tausendmal verführerischer ist, sich dem Traum vom Mercedes hinzugeben, als sich mit einem Trabi zu bescheiden. In der kurzen Periode, die dem stets existentiell bedrohten sozialistischen Experiment

zur Verfügung stand, konnte nicht erwartet werden, daß Verantwortlichkeit für das Wohl und Wehe der Mitmenschen über den grenzenlosen Egoismus siegt.

Auch wenn ich die gewonnene, sehr eingeschränkte demokratische Freiheit nicht völlig negieren kann, sind die real,faßbaren Errungenschaften (um die Banane ist nicht herumzukommen) für die politische Willensbildung und äußerung maßgebender. Die Enthüllung der Gefährlichkeit und Fragwürdigkeit der herrschenden Ordnung setzt das Bemühen um gedankliche Auseinandersetzung voraus. Es ist beispielsweise fraglich, ob in diesem Zusammenhang die Äußerung des Arbeitgeberpräsidenten Stihl als so entlarvend angesehen wird, wie sie es verdient. Er hat ja gedroht, den von der PDS regierten Kommunen den Investitionshahn zuzudrehen. Eine dazu nötige intellektuelle Anstrengung kann wohl nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.

Der Sozialismus kann nur eine Kraft und Zukunft haben, wenn endlich begonnen wird, sich nicht nur „schonungslos über die verhängnisvollen Fehler der Vergangenheit“ (M. B.) auszulassen. Wir müssen uns der zukunftsweisenden Aspekte erinnern. Mein Standpunkt findet seine Erklärung wohl auch in folgendem Umstand: Ich bin ein alter Wessi, der sich in Jährzehnten mit dem Faschismus und dann in kontinuierlicher Folge mit dem Regime in Bonn herumgeschlagen hat. Ich habe also das zweifelhafte „Vergnügen“, den Kapitalismus wirklich erfahren zu haben. Auf der anderen Seite muß ich mir sagen lassen, daß ich möglicherweise bei den Kurzbesuchen der DDR, deren Existenz als begrüßenswerte Alternative zur BRD ich immer unterstützt habe, der Versuchung erlegen war, gewissermaßen mit einer rosaroten Brille herumgelaufen bin. Ich mag also mit meiner Auffassung von der BRD als einem potentiell faschistischen Staat ebenso etwas von der Wirklichkeit ausgeblendet haben, wie viele der Bürger der DDR es tun, wenn sie an dem „Unrechtstaat“ kein gutes Haar lassen. Sicher sind die schlechten Beziehungen zwischen den PDS-Sympathisanten hüben und drüben zum Teil diesen „Blindheiten“ zuzuschreiben. Entscheidend sollte aber sein, daß die Austragung solcher Auseinandersetzungen in der zersplitterten Linken einen vernünftigen Rahmen findet.

Dr. MICHAEL VENEDEY