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Die Phantasie an der Macht

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Auch Carlos Marx, der ja nicht in allem unrecht haben konnte, führte das spezifisch deutsche Unglück auf die verpaßte Entwicklung zurück: Was deswegen das 20. Jahrhundert noch erleben würde, konnte er nicht voraussehen. Schon in seinem Essay „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ analysierte Marx paradigmatisch das Scheitern einer Bewegung, die zur Veränderung einer ganzen Gesellschaft angetreten war: „Zum Teil wirft (das Proletariat) sich auf doktrinäre Experimente, Tauschbanken und Arbeiterassoziationen, also in eine Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig scheitert.“ Was Marx hier anhand des französischen Proletariats nach der 48er Revolution beschreibt, trifft auch auf die 68er Bewegung des 20. Jahrhunderts zu, deren Niedergang wir etwas näher untersuchen wollen.

Ähnlich wie frustrierte Individuen schreiten frustrierte Schichten und Klassen irgendwann zur Gewaltanwendung und versuchen, sich einen „Weg ins Freie“ (Zarah Leander) zu prügeln. Dabei genügen zuerst Schlagworte, dann folgen gesalzene Hiebe, und schließlich wird aus der Hüfte geschossen, bevor mit Knopfdruck die Kanonen in Stellung gebracht werden. Besonders tragisch ist diese Degradation in Fällen, in denen am Anfang eine positive Utopie stand: die deutsche „Jugendbewegung“ fand sich zuerst in der HJ und dann im Schützengraben wieder, die revolutionäre Romantik, das Besinnen auf Ursprünge in Kultur und Natur, verkam zu einem Gewaber mystifizierender Volksbetrüger; Wagner taumelte rheingoldtrunken von Bakuningrad nach Bayreuth-Braunau; ehemalige Sozialdemokraten, die am Kongreß zu Basel noch den ewigen Frieden beschworen hatten, verwandelten sich über Nacht in Kriegsgurgeln und versicherten dem Kaiser lauthals, daß „der ärmste Sohn auch sein treuster sei“; einem paranoiden Hinterwäldler gelang es, den Stern der russischen Revolution so tief in den Dreck zu drücken, daß die Be-

sten irre wurden an seinem Glanz; und heut erleben wir den Zerfall der Achtundsechziger-Bewegung, die angetreten war, „die Phantasie an die Macht“ zu bringen, und die jetzt im Kulturbereich mit einer rechtsbürgerlich anmutenden Sachzwang-Argumentatiön Kreativität und Phantasie unterdrückt, während in den Vereinigten Staaten ein achtundsechziger Saxophonist, der nach Selbstdenunziation selbst schon mal an einem Joint gesaugt hat, seine dicksten Kanonen gegen die Dritte Welt richtet und damit offen zur achtundsechziger Gewalt-Welt-Herrschaft übergeht.

Wie die „Genossen an der Macht“ das widerliche Zerfallsprodukt der Sozialdemokratie und alte und neue Stalinisten jenes des Kommunismus darstellen, haben wir in der sog. „verkommenen Achtundsechziger-Horde“ eine höchst abstoßende Erscheinung vor uns, da diese Sozialformation (wie die beiden anderen) eine Degradation einer einst fortschrittlich auf die Bühne der Geschichte tretenden Bewegung darstellt, d.h. der erhöht degoutierende Gehalt dieser drei linken Cliquen beruht auf der Tatsache, daß sie sich an den Idealen und Utopien zu messen haben, mit welchen sie pathetisch angetreten sind; dies im Unterschied zu gesellschaftlichen Klassen, Schichten oder Teilen derselben, die von Anfang an zynisch das Macht- und Reichtumsprinzip als Panier vor sich hertragen.

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