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Das Nobelhotel voller Flüchtlinge

  • Lesedauer: 3 Min.

Foto: Sainpormi

Foto: M. Gittis Geste der Hoffnung in Georgien

Zwei Tage lang blieb der Strom völlig aus. Nicht einmal das Telefon piepste mehr. Was war geschehen? An der abchasisch-georgischen Grenze hatten Banditen, vermutlich Anhänger des ehemaligen Präsidenten Gamsachurdia, die Hochspannungsleitungen am Enguri-Wasserkraftwerk zerschossen. Später erzählte ein Arzt, daß in dieser Zeit auf der Intensivstation ein Kind sterben mußte, weil die Geräte wegen des Energieausfalls

nicht arbeiteten. An Entbindungen und Operationen bei Kerzenlicht sei man schon gewöhnt.

Bekannte erzählen ihre Familiengeschichte: Von fünf Geschwistern sind nur noch zwei Schwestern in Tbilissi. Ein Bruder arbeitet zur Zeit in Griechenland, zwei weitere Schwestern in Rußland. Ein anderes Ehepaar (sie Russin, er Georgier) erwägt ebenfalls, nach Rußland zu ziehen. Was soll man ihnen raten? Das Leben dort ist wirklich einfacher, die Kinder können normal die Schule besuchen. In Georgien halten die Schüler nur ein-zwei Stunden in der Kälte des Klassenzimmers aus. Der russische Botschafter Alexander Jakowenko nennt in einem Zeitungsinterview Zahlen: In den Jahren 1991 und 1992 trafen mehr als 97 000 Übersiedler aus Georgien in Rußland ein (davon knapp 51 000 Russen). Umgekehrt sind 22 000 nach Georgien ausgewandert. Überdies sind 34 300 Flüchtlinge aus Georgien - davon 10 500 aus Abchasien - in Rußland registriert.

In erster Linie seien es sozialökonomische Probleme, die diesen Strom verursachten. Der zweite Grund sei die Kriminalität in der Republik, und als dritten Punkt nennt Jakowenko den sogenannten alltäglichen Nationalismus, der ein trauriges Erbe der nationalen Politik der vorhergehenden Machthaber Georgiens sei.

Der Rustaweli-Prospekt ist immer noch die Flaniermeile in Tbilissi. Und doch erblickt man dort so manches Neue. Zunächst die wie Pilze aus dem Boden geschossenen Wechselstuben - ein Geschäft neben dem anderen tauscht Dollar, Rubel und Kupons, manchmal auch DM. Dann die Buchläden - neben Titeln georgischer und russischer Schriftsteller sehe ich auch, ein Buch des abchasischen Autors Fasil Iskander, die Bibel und Hitlers „Mein Kampf“ in gekürzter Variante. Plötzlich zieht ein Bauer mit einem Schaf an der Leine über den Prospekt. Nie zuvor hatte ich so etwas in Tbilissi gesehen. Doch das Gelächter der Passanten, das ich erwartete,

blieb aus. Eher waren es neidvolle Blicke, die das Fleisch begleiteten.

Der abchasisch-georgische Krieg ist in der Hauptstadt noch allgegenwärtig. Das ehemalige Nobelhotel „Iweria“ ist voller Flüchtlinge. In einer Fotoausstellung „Krieg in Abchasien“ fällt mir besonders ein Bild auf: ein Mann mit einem Gewehr und einem Baby auf dem Arm. Die Schriftsteller Rewas Mischweladse und Taschabua Amiredshibi, der Literaturwissenschaftler Prof. Guram Gwerdziteli und andere namhafte Gorgier haben im Krieg ihre Söhne verloren. Mancher spricht gar von einer zweiten „Säuberung“ der georgischen Intelligenz (die erste fand 1937 statt): Die Kugeln hätten nicht zufällig ganz bestimmte Kämpfer getroffen.

Auf meinen Fußwegen klingele ich ab und zu an den Türen von Freunden und Bekannten. Meine Lehrerin Prof. Ziskaridse öffnet nicht. Funktioniert die Klingel nicht? Ich klopfe. Doch niemand kommt an die Tür. Bei anderen geht es mir ähnlich. Dann werde ich von einem

Ehepaar aufgeklärt: Der Schriftsteller und die Malerin haben ihr ganzes Leben von einer Galerie geträumt und Bilder gesammelt. Die Eröffnung stand kurz bevor, doch dann nahm der „Banditismus“ Überhand. Eine bekannte Malerin wurde um ihre Bilder bestohlen. Um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden, lasse man niemanden mehr ins Haus, der sich nicht telefonisch angemeldet habe.

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