2003 - Jahr der Reformen?

Von Gunnar Winkler, Präsident der Volkssolidarität

Befragt man Seniorinnen und Senioren danach, was sich für sie 2003 geändert hat, kommt mehrheitlich die Aussage: Vieles ist schlechter geworden, die Unsicherheiten nehmen zu. Diese Feststellungen ließen sich durch eine Vielzahl von Daten untersetzen - aber alle Fakten über Rentenzahlbeträge, Eckrenten oder Preisentwicklungen wären eine einseitige Darstellung über das, was die Mehrheit der Rentnerinnen und Rentner zum Jahreswechsel bewegt.
2003 wird - nicht nur für ältere Menschen - ohne Zweifel in die deutsche Geschichte als Jahr »der Reformen«, als Jahr der »Wende in der Sozialpolitik« eingehen. Eine Wende, die den seit langem angestrebten Umbau des »Sozial«-Staates in bisher nicht bekanntem Tempo und Ausmaß durchdrückt. Kennzeichnend sind:

1. Um(Ab-)bau aller sozialen Systeme bei gleichzeitiger Entsolidarisierung
Es wurde ein »Reformpaket« erarbeitet, das so vordergründig von den wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen, Banken und Versicherungen ausgeht, dass selbst der Bundespräsident warnende Worte abgab. Es betrifft die Rentenversicherung (2001 beginnend) ebenso wie die Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Arbeitsmarktpolitik.
Als eine wesentliche Begründung wird dabei die sich erhöhende »demografische Last« benannt. Aber demografische Veränderungen mit zunehmendem Anteil älterer Menschen gibt es in Deutschland seit über 100 Jahren. 1871 kamen auf einen Bürger über 65 Jahre 13 Menschen im Alter von 15 bis 65, 1925 noch 12, 1950 noch 7 und 2000 waren es nur noch 4. Nicht der demografische Wandel ist neu - dieser wurde in der Vergangenheit über viele Jahrzehnte durch Produktivitätssteigerung abgefangen - neu ist, dass der Staat durch direkten Eingriff in die Taschen älterer Bürger versucht, kurzfristige Lösungen zu erreichen, obwohl die real vorhandenen höheren Aufwendungen bei einer steigenden Zahl älterer Menschen durch mehr Beschäftigung und Produktivität abzufangen sind. Wer demografische Entwicklungen zur Rentenkürzung nutzt, will eine generell neue Umverteilung des erzeugten Reichtums zu Ungunsten nicht streikender und sich nicht wehrender Senioren. Fehlende Arbeitsplätze und hohe Lohnnebenkosten sind nicht Ergebnis einer sich ändernden Altersstruktur, sondern einer verfehlten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik.
Die Forderung nach Senkung der Lohnnebenkosten, weil diese den »Standort« Deutschland angeblich negativ beeinflussen, wird genutzt, um eine durch Rentenkürzungen ermöglichte Beitragsstabilität hoffähig zu machen. Zugleich wird das Bild von den vermögenden, sich an der Adria sonnenden Rentnern vermittelt, deren Kosten die »Jungen« tragen. Damit wird ein real (noch) nicht vorhandener Generationenkonflikt beschworen. Die Politik zielt auf eine Entsolidarisierung zwischen Arbeitenden sowie Nichtarbeitenden (insbesondere Arbeitslosen und Rentnern), zwischen den (noch) von den Gewerkschaften Vertretenen und denen, die keine Lobby haben und (gegenwärtig) keine Gefahr für den sozialen Frieden und die Effizienz der Wirtschaft darstellen. Die Entsolidarisierung zwischen Alt und Jung beginnt zu wirken und erhöht den Druck auf eine individualisierte, private Altersvorsorge außerhalb der gesetzlichen, solidarischen Rentenversicherung.

2. Leistungsabbau - Einkommensminderung durch staatliche Eingriffe.
2004 wird für alle Rentner, die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten, mit einem direkten staatlichen Eingriff in ihre Einkommensverhältnisse verbunden sein, dem sie weder durch nachholende Vorsorgeversicherung noch durch eigene Erwerbsarbeit begegnen können. Nullrunde bei der Rente, volle Übernahme der Pflegeversicherung, »Eintrittsgeld« beim Arztbesuch, steigende Zuzahlung bei medizinischer Betreuung und Versorgung, steigende Preise und Dienstleistungstarife und anderes mehr senken das Nettoeinkommen älterer Menschen in Ost und West. So erfreulich eine höhere Lebenserwartung ist - sie bedarf einer entsprechenden sozialen und gesundheitlichen Betreuung, die ab 2004 zu deutlich erhöhten individuellen Belastungen führen wird. Während die Erwerbstätigen durch die Steuerreform - so einseitig diese auch angelegt ist - noch einen geringfügigen Ausgleich erhalten, entfällt das bei Arbeitslosen, geringverdienenden Alleinerziehenden und vielen Rentnern.
Bei den Rentnern wurde ein kurzfristiger Zugriff - gewissermaßen durch Zwangsvollstreckung - zur Sanierung der Staatsfinanzen beschlossen, weitere langfristige Regelungen sind noch nicht in Kraft. Diese Politik nach Kassenlage hat zu sozialer Verunsicherung und zum Glaubwürdigkeitsverlust der Politik geführt.

3. Ungleichheiten im Alterseinkommen werden stabilisiert und ausgebaut.
Die Rentenreform wurde bisher nicht genutzt, um vorhandene Ungleichbehandlungen im gesetzlich gesicherten Einkommen älterer Menschen zu mindern bzw. zu beseitigen. Das betrifft insbesondere die unterschiedlichen Leistungen zwischen Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung und beispielsweise Pensionsansprüchen von Beamten. Mit der Diskussion um Bürgerversicherung und Kopfpauschale wurde das Problem vertagt, taktisches kurzfristiges Herangehen hat strategische Überlegungen weitgehend außer Kraft gesetzt. Das betrifft zudem die Ungleichheiten im Renteneinkommen zwischen Frauen und Männern, die durch »neue Arbeitsmarktinstrumente« - wie der geringfügigen Beschäftigung (Mini-Jobs) - die »traditionelle« Rolle der »dazuverdienenden« Ehefrau ohne wesentlichen eigenen Rentenanspruch noch verfestigen.
Und das betrifft nicht zuletzt die nach wie vor existenten Ungleichheiten zwischen Ost und West. Die letzten Vorausberechnungen gehen hier von einer Einkommensangleichung bis 2030 aus. Die heutige Rentnergeneration in den neuen Ländern wird es nicht mehr erleben. Mittelfristig ist vorgesehen, dass der Angleichungsfaktor lediglich von 87,9 Prozent (2003) auf 88,5 Prozent (2007) steigen soll. Das System einer »regionalen« Rentenpolitik bleibt erhalten. Die Chance, für die Rentnerinnen und Rentner im Osten durch einen entsprechen Steigerungsbetrag im Jahr 2004 das gegenwärtige Niveau zu sichern, wurde nicht genutzt - im Gegenteil: Die verfügbare Eckrente wird gesetzlich abgesenkt.
All das wurde möglich durch Bildung einer großen Koalition von CSU/CDU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die unter Anmaßung des Wählerauftrages gegen die Interessen der Mehrheit ihrer Wähler staatliche Interventionen zum Sozialabbau beschlossen. Da nur vier Abgeordnete vor 1941 geboren sind - also die Rentnergenerationen »repräsentieren« - und Abgeordnete ohnehin eine in ihrer Höhe nicht begründbare »Altersversorgung« erhalten, sind Änderungen von dieser Seite nicht zu erwarten. Während die im Erwerbsleben Stehenden zumindest durch die Gewerkschaften ihre Positionen noch deutlich machen, gelingt es den Sozial- und Wohlfahrtsverbänden nicht, sich einheitlich zu artikulieren. Vorschläge der Volkssolidarität für einen Sozialgipfel der Verbände wurden nicht unterstützt.
Solange es keine gesetzlich geregelte politische Teilhabe von Senioren (Seniorenvertretungsgesetz) gibt, obwohl diese 32 Prozent der Wahlberechtigten darstellen, ist die außerparlamentarische Artikulation das Wirkungsvollste. Die Volkssolidarität wird sich auch im Jahr 2004 deshalb verstärkt der Interessenvertretung im Bereich der Altersvorsorge und -versorgung zuwenden. Aber dazu bedarf es der Unterstützung nicht nur der Mitglieder, sondern aller. Mein Fa...

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