Der eigentliche Ernstfall liegt vor einem Krieg

ND-Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Peter Dürr

Wie nur wenige hat der renommierte Physiker Prof. Dr. Hans-Peter Dürrin über 300 Büchern und Schriften, in Vorträgen und Debatten immer auch über die Grenzen seiner Wissenschaft hinausgedacht. Zuletzt erschien u.a. der fünfte und letzte Band seiner viel tausendseitigen Ethnografie der Conditio humana »Die Tatsachen des Lebens. Der Mythos vom Zivilisationsprozess« im Suhrkamp Verlag. Der langjährige Direktor des Werner-Heisenberg-Instituts am Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in München, der 1956 an der University of California in Berkeley bei Edward Teller promovierte, ist Begründer der Initiative »Global Challenges Network« und wurde mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Prof. Dürr, der sich seit langem für die weltweite nukleare Abrüstung und gegen den Krieg als Mittel der Politik stark macht, gehört zu den Initiatoren der »Koalition für Leben und Frieden«. Mit dem 74-Jährigen sprach für ND Olaf Standke.

ND: Sie haben sich gemeinsam mit anderen deutschen Intellektuellen ganz vehement gegen den Irak-Krieg gewandt. Vergeblich. Sehen Sie Ihre Befürchtungen nun bestätigt?
Dürr: Leider. In Irak wurde ja nicht nur ein Diktator beseitigt. Es geht um die Frage, wie eine ganze Region organisiert wird, wie Staaten überhaupt künftig miteinander umgehen. Früher haben die USA gesagt, wir brauchen Saddam Hussein zur Stabilisierung des Nahen Ostens, unser Feind ist eigentlich Iran. Jetzt ist Saddam weg, und in Irak herrscht Chaos, die Region ist destabilisiert, und die USA wissen nicht damit umzugehen.

US-amerikanische Intellektuelle haben den Angriffskrieg als gerecht und moralisch gerechtfertigt verteidigt. Sie haben widersprochen. Warum?
Kriege zu führen, um eine Regierung zu stürzen - wird das zum akzeptierten Prinzip, hebt es unsere Welt völlig aus den Angeln. Die Charta der Vereinten Nationen lässt keinen »präventiven Verteidigungskrieg« zu, Angriffskriege sind grundsätzlich nicht zu rechtfertigen. Dazu die Legende von den irakischen Atomwaffen, die uns bedrohen sollten. Ich kenne mich mit diesen Waffen ja ein bisschen aus: an den Haaren herbeigezogen. So wie die Behauptung, Saddam Hussein habe mit dem Terrornetzwerk von Al Qaida unter einer Decke gesteckt. Es geht den USA doch vor allem um geostrategische Interessen, um die Kontrolle über das Öl und damit perspektivisch auch über Staaten wie China oder Indien, die von diesem Öl im besonderen Maße abhängig sind.

Ist diese Ablehnung selbst vermeintlich gerechter Kriege auch eine Folge Ihrer Biographie: Kriegsteilnehmer, Schüler von Edward Teller...?
Ich habe nächtelang Tote begraben nach einem Angriff, meine Betroffenheit beim Thema Krieg ist davon geprägt, richtig. Ich bekam eine Ahnung von Massenvernichtung. Aber selbst das war, wenn Sie so wollen, nur ein Vorspiel. Als ich zehn Jahre später in Berkeley bei Edward Teller promovierte, wurde an der Wasserstoffbombe gebaut, tausend Mal so stark wie die Nagasaki-Bombe. Uns war klar: Mit dieser Vernichtungskraft, die die Menschheit und die höher entwickelten Arten der Biosphäre mit vollständiger Zerstörung bedroht, wird endgültig nichts mehr so sein wie bisher. Im Zeitalter der Atomwaffen kann man nicht mehr in herkömmlicher Weise über Kriege und Kriegführung reden. Wir leben in einer Welt, in der Thomas von Aquin als Kronzeuge für das Recht auf »gerechte Kriege« nicht mehr greift. Moderner Krieg ist Massenmord. Kann es »gerechte Massaker« geben?

Aber kann Gewalt nicht manchmal unumgänglich sein, um Massaker zu verhindern?
Krieg darf heute keine Ultima ratio mehr sein. Auch nicht im Falle Iraks. Die USA sagen nun, sie wollten die Zivilbevölkerung von der Diktatur befreien. Durch Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen? Selbst wenn der Anlass eines Krieges gerechtfertigt sein mag - die Durchführung ist es nicht. Wir leben auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit riesigen Arsenalen nuklearer, chemischer, biologischer und konventioneller Waffen. Wir versuchen noch immer, mit einem Overkill-Potenzial Konflikte zu lösen. Betroffen sind dann zu 90 Prozent unbeteiligte Zivilisten. Kriege können die Probleme nicht lösen, die wir nicht vorher am Verhandlungstisch gelöst haben. Mit Superkeulen, die indifferent Kollateralschäden in Kauf nehmen, lassen sich Menschenrechte schlicht nicht erzwingen. Das ist sogar extrem kontraproduktiv.

Wie also dann?
Zu fragen ist doch immer: Haben wir wirklich alle politischen, diplomatischen, ökonomischen Mittel ausgeschöpft, um Konflikte zu beenden oder besser noch zu verhindern? Wir versuchen, an den Symptomen herumzudoktern und vergessen die Wurzeln des Übels. Teller sagte einmal, wenn die Besten auch die militärisch Stärksten sind, dann sei das doch gut für den Weltfrieden. Aber nicht der größte Krieger ist der Beste, der beste Mittler ist es. Der eigentliche Ernstfall liegt vor dem Krieg. Wenn der Krieg ausbricht, haben wir versagt. Man fragt immer erst nach Alternativen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Ich kann nicht aufgefordert werden, eine Kugel wieder einzufangen, wenn das Gewehr erst einmal abgefeuert wurde. Ich kann nur rechtzeitig sagen: Schieß nicht. Deshalb habe ich schon seit langem vorgeschlagen, dass wir anstelle unseres Verteidigungsministeriums ein Konfliktbearbeitungs-Ministerium einrichten. Ich denke, wir können Konflikte ohne Gewalt lösen, wenn wir rechtzeitig mit der Prävention anfangen.

Bush hat seinen »Krieg gegen den Terrorismus« nach den Anschlägen am 11. September 2001 zum ersten des 21. Jahrhunderts erklärt - und Dutzende andere, die oft schon seit Jahrzehnten toben, einfach ignoriert. Damit auch einen Nährboden für Terrorismus?
Der Zusammenhang liegt auf der Hand. Auf Dauer darf die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter aufgehen. Ob zwischen den Staaten oder in ihnen. Wir wissen genau, dass die Spannungen in der Welt mit diesem Ungleichgewicht zusammenhängen. Ungleichgewicht bedeutet strukturelle Gewalt. Meist bleibt dem Schwachen gar keine andere Möglichkeit, als seine Fäuste zu benutzen, David gegen Goliath. Und wir haben schmerzlich erfahren müssen, dass unsere Welt hochgradig verwundbar ist, selbst für Steinschleudern. Unsere Gesellschaft ist labil, unsere Technologien sind nicht robust genug. Unsere Industriegesellschaft, aufgebaut aus hochkomplexen Systemen, mit ihrer totalen Abhängigkeit von Elektrizitäts- und Kommunikationsnetzen, bietet ideale Angriffsflächen für Terroristen.

Also überspitzt formuliert: den Fortschritt stoppen?
Was heißt Fortschritt? Auch das ist eine Lehre des 11. September: Wir brauchen eine Technik, die wieder zuerst an den Menschen denkt und nicht die einen stärkt, um andere zu unterdrücken. Physikalisch betrachtet führt das von den Neoliberalen geforderte ungehemmte Wachstum zur Destabilisierung, bei der vermeintliche Gewinne unvermeidlich durch entsprechende Zerstörungen an anderer Stelle überkompensiert werden. Wir hecheln atemlos einer sich immer weiter beschleunigten und verselbstständigten Technik hinterher. Wir sind verliebt in die Schnelligkeit, in die Größe - von der Natur her betrachtet Kriterien, wie man sich selbst den Garaus macht. Die Schnellmacher stürzen alle ab. Wir müssen einfach einkalkulieren, dass nur zukunftsfähig ist, was fehlerfreundlich ist. Schon weil der Mensch Fehler macht. Da ist immer ein Restrisiko. Ob bei Atomwaffen oder Atomkraftwerken.

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes hofften viele, dass auch die Zeit der Atomwaffen vorbei sei. Doch inzwischen erleben wir eine Art Renaissance.
Auch ich hatte gehofft, dass sie nicht mehr mein Hauptthema sein würden, weil es umfassende nukleare Abrüstung gibt, weil der Teststopp- und der Nichtverbreitungsvertrag Grenzen setzen. Aber die Kernwaffenmächte, allen voran die USA, haben mit ihrer Politik Staaten wie Indien und Pakistan regelrecht animiert, selbst Atomwaffen zu entwickeln. Nun arbeiten die USA an so genannten Mini-Nukes, weil sie so gut zur Bush-Doktrin präventiver Kriege passen. Aber weil sie so beweglich und flexibel einsetzbar sind, sind sie auch so kreuzgefährlich. Denn sie senken die atomare Einsatzschwelle, die Grenze zu den konventionellen Waffen verschwimmt. Und sie provozieren eine neue Runde des Wettrüstens.

Funktioniert das Prinzip der atomaren Abschreckung überhaupt noch?
Die große Bedrohung kommt doch nicht von einem »Schurkenstaat«, gegen den ich jetzt ein teures Raketenabwehrschild errichten müsste. Nein, die wirkliche Bedrohung ist künftig die 50-Kilogramm-Atombombe, die ich auf den Rücken schnallen kann, die sich in das Land schmuggeln und geeignet deponieren lässt, um den Staat zu erpressen. Sich besser vor Terroristen zu schützen heißt auch, radikal atomar abzurüsten. Das beginnt schon damit, dass es so einfach ist, an radioaktives Material zu gelangen. Und es schließt ein, dass unsere Kernkraftwerke so verlockende Ziele sind.

Stecken wir in der Terrorismus-Falle?
Ich kenne die USA gut und beobachte mit Sorge, wie dort permanent Angstzustände geschürt werden. In diesem Zustand werfen die Leute ihre private Meinung weg, souveräne Menschen werden regelrecht abhängig gemacht, sie geben in der Terrorhysterie sogar freiwillig Bürgerrechte auf nach dem Motto: Bitte hört mein Telefon ab, ich bin glücklich, meinem Land dienen zu dürfen. Das erinnert mich fatal an meine Jugend, wie man uns damals dazu gebracht hat, »Opfer zu bringen«.

Auch ein kriegsförderndes Klima?
Ja. Warum nicht einen Krieg, um mir die Angst vor Saddams Bomben zu nehmen. Warum nicht eine kleine Atom-Bombe, um endlich Osama bin Laden zu erwischen, mag dabei auch ein Land platt gemacht werden? Ich befürchte, wir sind längst in dieser Spirale.

Sie haben in Ihrem Leben viele Appelle an die Vernunft gerichtet, an Staatsmänner, an die Öffentlichkeit. Wenn Sie sich die Welt heute anschauen, verliert man da nicht den Glauben an die Menschheit, an ihre Friedensfähigkeit?
Man darf nicht nur die nach wie vor vielen Kriege und Konflikte sehen. Es gibt auch Proteste dagegen. Ich erlebe bei meinen Vorträgen, wie aufnahmefähig, nachdenklich die Menschen sind. Sie sind überall auf der Welt viel friedensfähiger, als man denken mag. Die Mehrheit will in Ruhe und Frieden mit den Nachbarn leben. Wir haben doch gemeinsame Traditionen, gemeinsame kulturelle Wurzeln.

Kein »Krieg der Zivilisationen« also?
Wir müssen begreifen, dass jede Kultur eine andere Art ist, das Unaussprechliche zu charakterisieren, zu karikieren. Für mich sind die Weltreligionen verschiedene Karikaturen der Wirklichkeit, wie wir sie zu begreifen versuchen. Jede Kultur hat da ihre Darstellung gefunden. Und, um Gotteswillen, warum um Karikaturen streiten! Wenn der eine seine mit einer großen Nase versieht, und der andere macht sie mit einem großen Ohr, dann heißt das eben, der riecht mehr und jener hört besser. Also hat die jeweils andere Kultur vielleicht etwas, was meiner fehlt. Die Weltkultur ist doch mehr als die Summe ihrer Teile, so wie ein Körper mehr ist als die Summe seiner Zellen.

Was uns aber alles nicht vor Gewalt, Konflikten und vor Kriegen schützt.
Heute führen doch nicht mehr unterschiedliche Religionen oder Kulturen zum Krieg, es ist das Spannungsverhältnis zwischen Eroberern und Eroberten, zwischen Herrschenden und Beherrschten. Oft hört man auch, der Mensch könne gar nicht friedensfähig sein, weil die Natur es schließlich auch nicht ist. Eine Fehlinterpretation. Ja, die Natur will differenzieren, selektieren, emanzipieren. Aber in ihr hängt auch alles miteinander zusammen. Differenzierung und kooperative Integration - das ist ihr Grundprinzip. Der Mensch in sich selbst ist das beste Beispiel für diese Unterschiedlichkeit und Integration der Verschiedenheit in konstruktiver Weise. Dieses Modell müssen wir nur gesellschaftspolitisch tragfähig machen. Nicht einer gegen den anderen, sondern zu einem größeren Besseren hin kooperieren. Das ist doch der ganze Witz der Evolution...

...und Ihre Vision für das 21. Jahrhundert?
Ich bin ein ganz starker Befürworter von Träumen und Utopien. Visionen, auch gesellschaftliche, sind wie der Polarstern, vielleicht unerreichbar, aber sie können eine Richtung geben. Wir müssen dieses Gefühl haben: Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, das Morgen zu gestalten. Wenn man sagt, es gibt keine Alternative, dann ist die Zukunft einfach die Fortsetzung des Vergangenen. Dann gestalten wir sie, indem wir dauernd in den Rückspiegel schauen. Und dann wiederholt sich die Vergangenheit. Die Zukunftsfähigkeit des homo sapiens - und nicht nur seiner Schrumpfgestalt, des homo oeconomicus - erfordert neben der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen auch eine Nachhaltigkeit auf der gesellschaftlichen und human-individuellen Ebene. Und weil die herrschenden politischen Systeme ganz offensichtlich außerstande sind, Kriege zu verhindern oder globale Probleme wie die Eindämmung von Hunger, Armut oder Umweltkatastrophen zu lösen, brauchen wir künftig eine viel stärkere demokratische Mitwirkung parteiunabhängiger zivilgesellschaftlicher Kräfte, die durch ihre Sachkompetenz legitimiert sind.ND: Sie haben sich gemeinsam mit anderen deutschen Intellektuellen ganz vehement gegen den Irak-Krieg gewandt. Vergeblich. Sehen Sie Ihre Befürchtungen nun bestätigt?
Dürr: Leider. In Irak wurde ja nicht nur ein Diktator beseitigt. Es geht um die Frage, wie eine ganze Region organisiert wird, wie Staaten überhaupt künftig miteinander umgehen. Früher haben die USA gesagt, wir brauchen Saddam Hussein zur Stabilisierung des Nahen Ostens, unser Feind ist eigentlich Iran. Jetzt ist Saddam weg, und in Irak herrscht Chaos, die Region ist destabilisiert, und die USA wissen nicht damit umzugehen.

US-amerikanische Intellektuelle haben den Angriffskrieg als gerecht und moralisch gerechtfertigt verteidigt. Sie haben widersprochen. Warum?
Kriege zu führen, um eine Regierung zu stürzen - wird das zum akzeptierten Prinzip, hebt es unsere Welt völlig aus den Angeln. Die Charta der Vereinten Nationen lässt keinen »präventiven Verteidigungskrieg« zu, Angriffskriege sind grundsätzlich nicht zu rechtfertigen. Dazu die Legende von den irakischen Atomwaffen, die uns bedrohen sollten. Ich kenne mich mit diesen Waffen ja ein bisschen aus: an den Haaren herbeigezogen. So wie die Behauptung, Saddam Hussein habe mit dem Terrornetzwerk von Al Qaida unter einer Decke gesteckt. Es geht den USA doch vor allem um geostrategische Interessen, um die Kontrolle über das Öl und damit perspektivisch auch über Staaten wie China oder Indien, die von diesem Öl im besonderen Maße abhängig sind.

Ist diese Ablehnung selbst vermeintlich gerechter Kriege auch eine Folge Ihrer Biographie: Kriegsteilnehmer, Schüler von Edward Teller...?
Ich habe nächtelang Tote begraben nach einem Angriff, meine Betroffenheit beim Thema Krieg ist davon geprägt, richtig. Ich bekam eine Ahnung von Massenvernichtung. Aber selbst das war, wenn Sie so wollen, nur ein Vorspiel. Als ich zehn Jahre später in Berkeley bei Edward Teller promovierte, wurde an der Wasserstoffbombe gebaut, tausend Mal so stark wie die Nagasaki-Bombe. Uns war klar: Mit dieser Vernichtungskraft, die die Menschheit und die höher entwickelten Arten der Biosphäre mit vollständiger Zerstörung bedroht, wird endgültig nichts mehr so sein wie bisher. Im Zeitalter der Atomwaffen kann man nicht mehr in herkömmlicher Weise über Kriege und Kriegführung reden. Wir leben in einer Welt, in der Thomas von Aquin als Kronzeuge für das Recht auf »gerechte Kriege« nicht mehr greift. Moderner Krieg ist Massenmord. Kann es »gerechte Massaker« geben?

Aber kann Gewalt nicht manchmal unumgänglich sein, um Massaker zu verhindern?
Krieg darf heute keine Ultima ratio mehr sein. Auch nicht im Falle Iraks. Die USA sagen nun, sie wollten die Zivilbevölkerung von der Diktatur befreien. Durch Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen? Selbst wenn der Anlass eines Krieges gerechtfertigt sein mag - die Durchführung ist es nicht. Wir leben auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit riesigen Arsenalen nuklearer, chemischer, biologischer und konventioneller Waffen. Wir versuchen noch immer, mit einem Overkill-Potenzial Konflikte zu lösen. Betroffen sind dann zu 90 Prozent unbeteiligte Zivilisten. Kriege können die Probleme nicht lösen, die wir nicht vorher am Verhandlungstisch gelöst haben. Mit Superkeulen, die indifferent Kollateralschäden in Kauf nehmen, lassen sich Menschenrechte schlicht nicht erzwingen. Das ist sogar extrem kontraproduktiv.

Wie also dann?
Zu fragen ist doch immer: Haben wir wirklich alle politischen, diplomatischen, ökonomischen Mittel ausgeschöpft, um Konflikte zu beenden oder besser noch zu verhindern? Wir versuchen, an den Symptomen herumzudoktern und vergessen die Wurzeln des Übels. Teller sagte einmal, wenn die Besten auch die militärisch Stärksten sind, dann sei das doch gut für den Weltfrieden. Aber nicht der größte Krieger ist der Beste, der beste Mittler ist es. Der eigentliche Ernstfall liegt vor dem Krieg. Wenn der Krieg ausbricht, haben wir versagt. Man fragt immer erst nach Alternativen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Ich kann nicht aufgefordert werden, eine Kugel wieder einzufangen, wenn das Gewehr erst einmal abgefeuert wurde. Ich kann nur rechtzeitig sagen: Schieß nicht. Deshalb habe ich schon seit langem vorgeschlagen, dass wir anstelle unseres Verteidigungsministeriums ein Konfliktbearbeitungs-Ministerium einrichten. Ich denke, wir können Konflikte ohne Gewalt lösen, wenn wir rechtzeitig mit der Prävention anfangen.

Bush hat seinen »Krieg gegen den Terrorismus« nach den Anschlägen am 11. September 2001 zum ersten des 21. Jahrhunderts erklärt - und Dutzende andere, die oft schon seit Jahrzehnten toben, einfach ignoriert. Damit auch einen Nährboden für Terrorismus?
Der Zusammenhang liegt auf der Hand. Auf Dauer darf die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter aufgehen. Ob zwischen den Staaten oder in ihnen. Wir wissen genau, dass die Spannungen in der Welt mit diesem Ungleichgewicht zusammenhängen. Ungleichgewicht bedeutet strukturelle Gewalt. Meist bleibt dem Schwachen gar keine andere Möglichkeit, als seine Fäuste zu benutzen, David gegen Goliath. Und wir haben schmerzlich erfahren müssen, dass unsere Welt hochgradig verwundbar ist, selbst für Steinschleudern. Unsere Gesellschaft ist labil, unsere Technologien sind nicht robust genug. Unsere Industriegesellschaft, aufgebaut aus hochkomplexen Systemen, mit ihrer totalen Abhängigkeit von Elektrizitäts- und Kommunikationsnetzen, bietet ideale Angriffsflächen für Terroristen.

Also überspitzt formuliert: den Fortschritt stoppen?
Was heißt Fortschritt? Auch das ist eine Lehre des 11. September: Wir brauchen eine Technik, die wieder zuerst an den Menschen denkt und nicht die einen stärkt, um andere zu unterdrücken. Physikalisch betrachtet führt das von den Neoliberalen geforderte ungehemmte Wachstum zur Destabilisierung, bei der vermeintliche Gewinne unvermeidlich durch entsprechende Zerstörungen an anderer Stelle überkompensiert werden. Wir hecheln atemlos einer sich immer weiter beschleunigten und verselbstständigten Technik hinterher. Wir sind verliebt in die Schnelligkeit, in die Größe - von der Natur her betrachtet Kriterien, wie man sich selbst den Garaus macht. Die Schnellmacher stürzen alle ab. Wir müssen einfach einkalkulieren, dass nur zukunftsfähig ist, was fehlerfreundlich ist. Schon weil der Mensch Fehler macht. Da ist immer ein Restrisiko. Ob bei Atomwaffen oder Atomkraftwerken.

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes hofften viele, dass auch die Zeit der Atomwaffen vorbei sei. Doch inzwischen erleben wir eine Art Renaissance.
Auch ich hatte gehofft, dass sie nicht mehr mein Hauptthema sein würden, weil es umfassende nukleare Abrüstung gibt, weil der Teststopp- und der Nichtverbreitungsvertrag Grenzen setzen. Aber die Kernwaffenmächte, allen voran die USA, haben mit ihrer Politik Staaten wie Indien und Pakistan regelrecht animiert, selbst Atomwaffen zu entwickeln. Nun arbeiten die USA an so genannten Mini-Nukes, weil sie so gut zur Bush-Doktrin präventiver Kriege passen. Aber weil sie so beweglich und flexibel einsetzbar sind, sind sie auch so kreuzgefährlich. Denn sie senken die atomare Einsatzschwelle, die Grenze zu den konventionellen Waffen verschwimmt. Und sie provozieren eine neue Runde des Wettrüstens.

Funktioniert das Prinzip der atomaren Abschreckung überhaupt noch?
Die große Bedrohung kommt doch nicht von einem »Schurkenstaat«, gegen den ich jetzt ein teures Raketenabwehrschild errichten müsste. Nein, die wirkliche Bedrohung ist künftig die 50-Kilogramm-Atombombe, die ich auf den Rücken schnallen kann, die sich in das Land schmuggeln und geeignet deponieren lässt, um den Staat zu erpressen. Sich besser vor Terroristen zu schützen heißt auch, radikal atomar abzurüsten. Das beginnt schon damit, dass es so einfach ist, an radioaktives Material zu gelangen. Und es schließt ein, dass unsere Kernkraftwerke so verlockende Ziele sind.

Stecken wir in der Terrorismus-Falle?
Ich kenne die USA gut und beobachte mit Sorge, wie dort permanent Angstzustände geschürt werden. In diesem Zustand werfen die Leute ihre private Meinung weg, souveräne Menschen werden regelrecht abhängig gemacht, sie geben in der Terrorhysterie sogar freiwillig Bürgerrechte auf nach dem Motto: Bitte hört mein Telefon ab, ich bin glücklich, meinem Land dienen zu dürfen. Das erinnert mich fatal an meine Jugend, wie man uns damals dazu gebracht hat, »Opfer zu bringen«.

Auch ein kriegsförderndes Klima?
Ja. Warum nicht einen Krieg, um mir die Angst vor Saddams Bomben zu nehmen. Warum nicht eine kleine Atom-Bombe, um endlich Osama bin Laden zu erwischen, mag dabei auch ein Land platt gemacht werden? Ich befürchte, wir sind längst in dieser Spirale.

Sie haben in Ihrem Leben viele Appelle an die Vernunft gerichtet, an Staatsmänner, an die Öffentlichkeit. Wenn Sie sich die Welt heute anschauen, verliert man da nicht den Glauben an die Menschheit, an ihre Friedensfähigkeit?
Man darf nicht nur die nach wie vor vielen Kriege und Konflikte sehen. Es gibt auch Proteste dagegen. Ich erlebe bei meinen Vorträgen, wie aufnahmefähig, nachdenklich die Menschen sind. Sie sind überall auf der Welt viel friedensfähiger, als man denken mag. Die Mehrheit will in Ruhe und Frieden mit den Nachbarn leben. Wir haben doch gemeinsame Traditionen, gemeinsame kulturelle Wurzeln.

Kein »Krieg der Zivilisationen« also?
Wir müssen begreifen, dass jede Kultur eine andere Art ist, das Unaussprechliche zu charakterisieren, zu karikieren. Für mich sind die Weltreligionen verschiedene Karikaturen der Wirklichkeit, wie wir sie zu begreifen versuchen. Jede Kultur hat da ihre Darstellung gefunden. Und, um Gotteswillen, warum um Karikaturen streiten! Wenn der eine seine mit einer großen Nase versieht, und der andere macht sie mit einem großen Ohr, dann heißt das eben, der riecht mehr und jener hört besser. Also hat die jeweils andere Kultur vielleicht etwas, was meiner fehlt. Die Weltkultur ist doch mehr als die Summe ihrer Teile, so wie ein Körper mehr ist als die Summe seiner Zellen.

Was uns aber alles nicht vor Gewalt, Konflikten und vor Kriegen schützt.
Heute führen doch nicht mehr unterschiedliche Religionen oder Kulturen zum Krieg, es ist das Spannungsverhältnis zwischen Eroberern und Eroberten, zwischen Herrschenden und Beherrschten. Oft hört man auch, der Mensch könne gar nicht friedensfähig sein, weil die Natur es schließlich auch nicht ist. Eine Fehlinterpretation. Ja, die Natur will differenzieren, selektieren, emanzipieren. Aber in ihr hängt auch alles miteinander zusammen. Differenzierung und kooperative Integration - das ist ihr Grundprinzip. Der Mensch in sich selbst ist das beste Beispiel für diese Unterschiedlichkeit und Integration der Verschiedenheit in konstruktiver Weise. Dieses Modell müssen wir nur gesellschaftspolitisch tragfähig machen. Nicht einer gegen den anderen, sondern zu einem größeren Besseren hin kooperieren. Das ist doch der ganze Witz der Evolution...

...und Ihre Vision für das 21. Jahrhundert?
Ich bin ein ganz starker Befürworter von Träumen und Utopien. Visionen, auch gesellschaftliche, sind wie der Polarstern, vielleicht unerreichbar, aber sie können eine Richtung geben. Wir müssen dieses Gefühl haben: Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, das Morgen zu gestalten. Wenn man sagt, es gibt keine Alternative, dann ist die Zukunft einfach die Fortsetzung des Vergangenen. Dann gestalten wir sie, indem wir dauernd in den Rückspiegel schauen. Und dann wiederholt sich die Vergangenheit. Die Zukunftsfähigkeit des homo sapiens - und nicht nur seiner Schrumpfgestalt, des homo oeconomicus - erfordert neben der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen auch eine Nachhaltigkeit auf der gesellschaftlichen und human-individuellen Ebene. Und weil die herrschenden politischen Systeme ganz offensichtlich außerstande sind, Kriege zu verhindern oder globale Probleme wie die Eindämmung von Hunger, Armut oder Umweltkatastrophen zu lösen, brauchen wir künftig eine viel stärkere demokratische Mitwirkung parteiunabhängiger zivilgesellschaftlicher Kräfte, die durch ihre Sachkompetenz legitimiert sind.

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