Carawan-Camper von Pine Island verzichten auf Böller

Der Irak-Krieg wird hier kaum wahrgenommen, wohl aber soziale Kälte

  • Max Böhnel, Miami
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf dem großen Campingplatz von Pine Island (Florida) liegt das Jesuskind unter einer Kokospalme. Auch sonst bleiben die weihnachtlichen Symbole, mit denen die Langzeitcamper ihre tropische Umgebung bis ins neue Jahr hinein schmücken, ganz im Rahmen dessen, was dem Fest der Besinnung eine ganz amerikanische Note verleiht: aufblasbare Gummi-Nikoläuse, lamettabehängte Plastik-Tannen als Eingang zum Camping-WC, eine in Holz gehauene Krippenszene mit aufgesteckter USA-Fahne, daneben eine chromfarbene Harley Davidson. Dem Erstbesucher der Wohnwagen- und Carawan-Kolonie laufen die Augen über. Und doch lässt sich die Jahresendzeit auch am Südzipfel der USA nicht völlig vom Kommerz absorbieren. Gerade auf Pine Island, das wegen der Abwesenheit von Stränden und Touristen wie das Florida der 50er Jahre vor sich hindümpelt, hat sich so etwas wie ein Restbestand von sozialem Gewissen gehalten. Jack Wakefield, der gerade 70 geworden ist, stellt energisch klar: Zum Jammern gibt es neben den Alterskrankheiten wahrlich genug. Dazu reicht es, einmal die Woche die Zeitung zu lesen. Er erwähnt den Bericht der amerikanischen Bürgermeisterkonferenz, der jeden Dezember veröffentlicht wird, Obdachlosigkeit und Hunger sind im vergangenen Jahr »dramatisch« angestiegen, hieß es darin, und dies vor allem bei Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln bei örtlichen Suppenküchen stieg um 17 Prozent an, die nach Betten in Obdachlosenheimen um 13 Prozent. Selten reden die etwa 60 Camping-Rentner, sie alle stammen aus der unteren Mittelschicht, über Außenpolitik und Krieg. Dies scheint zu weit weg. Aber wenn es sie direkt angeht und soziale Dinge betroffen sind, dann wird gerne politisiert. Allein das Dasein im Wohnwagen bietet dazu Anlass. Es ist möglich, hierher den kalten Wintermonaten im Norden zu entfliehen, da eine feste Bleibe im immer warmen Florida unerschwinglich ist. Die meisten alten Leute vor Ort haben einen Teil ihrer Ersparnisse für einen fahrbaren Untersatz mit Klo, Couch und Fernseher ausgegeben und verbringen den Rest ihres Lebens am Golfstrom. Jack Wakefield aus Ohio war beispielsweise früh in die Arbeitslosigkeit gestürzt. »Relativ risikofrei« sei das Leben bis vor kurzem trotzdem gewesen, sagt Wakefield, der vor neun Jahren Sack und Pack ins Wohnmobil hievte, um auf den preisgünstigen Carawan-Platz umzuziehen. Hier gäbe es weder Heizungskosten noch Frostbeulen, die Steuern seien niedrig und das Obst billig. Doch inzwischen mache auch er sich Sorgen, seit Congress und Regierung das Medicare-System, das seit den frühen 60er Jahren existierende medizinische Netz für Menschen über 65, vor kurzem »reformiert« haben. Zu erwarten sind beispielsweise, da die Regierung die Arzneimittelpreise mit den Konzernen nicht mehr verhandeln wird, höhere Kosten für Medizin. Jack Wakefield wird für seine verschreibungspflichtigen Herz- und Kreislaufmittel teilweise selbst aufkommen müssen, was ihm »ein recht großes Loch in die Westentasche reißen wird«, wie er sagt. Mary Hibbert wird im Februar 61. Sie wuchs in Floridas Hauptstadt Miami auf, wo sie bis zum Tod ihres Mannes vor wenigen Jahren auch lebte. Auch sie hat sich in Pine Island niedergelassen. Für das 30-Quadratmeter-Fleckchen Beton mit Kleinrasen, Gas- und Wasseranschluss zahlt sie den Campingbetreibern monatlich 480 Dollar, was sie von den ehelichen Ersparnissen abstottert. »Vielleicht noch zehn, elf Jahre«. Sie sagt, und dann? Bis dahin will sie als Kassiererin bei einer Supermarktkette im nächsten Ort Teilzeit arbeiten - »falls sie nicht noch weiter Arbeitsplätze wegrationalisieren«. Das kassiererlose Bezahlsystem hat sich mittlerweile bis nach Pine Island durchgesprochen: sechs bis acht Kassen, an denen die Käufer die Ware, von einem Sprechautomaten angeleitet, selbst einscannen, in Tüten packen und per Kreditkarte bezahlen. Alles bewacht von nur einer Angestellten. Es ist erstaunlich: Selbst an so abgelegenen Orten wie Pine Island, wo die Kunde von den Anschlägen am 11. September 2001 monatelang zur Überlebensangst wurde, spielen inzwischen Fragen wie Arbeitsplätze und Gesundheitsversorgung die Hauptrolle. Der »Antiterrorkrieg« ist am Stammtisch - oder auf dem Campingplatz - kein ernsthaftes Thema mehr. Die Festnahme Saddam Husseins holte zwar das Ansehen der Bush-Regierung aus einem Tief heraus - Umfragen zufolge bewegt sich Bush am Jahresende bei 63 Prozent - doch der Krieg gegen Irak und die Besatzung werden - wenn überhaupt - bei denen, die keine Angehörigen oder Bekannten bei der US-Army haben, nur als Nebenposten wahrgenommen. Der Zusammenhang zwischen Krieg und sozialpolitischen Verwerfungen ist dabei aber nur den Wenigsten bewusst, irgendwie ist »alles Schicksal«, oder aber beeinflusst »von Dingen in Washington«, denen man nur selten Beachtung schenkt. Die Rentner-Gemeinschaft auf Pine Island wird Silvester mit einem Truthahn-Abendessen und Weißwein unter Kokospalmen begehen. Auf Böller wird dieses Jahr verzichtet - sie sind zu teuer.
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