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Rauchende Kids

Ost-Berliner Schüler drehten Film gegen Sucht und Gewalt

  • Lesedauer: 4 Min.

Schüler mit Joint: Die Qualmer werden immer jünger

Foto: Schmidt

Die alte Backsteinschule auf einem Hinterhof im Ost-Berliner Stadtbezirk Friedrichshain ist von einem erdrückenden Charme. Die im Karree erbauten Mauern scheinen den grauen Himmel über den alten Bäumen auf dem betonierten Schulhof zu einem Viereck zusammenzuschieben. „Es gibt keinen Platz mehr. Nicht mal zum Leben“, steht auf einem Plakat, das in einem der langen Klassenflure hängt. Wo kein Platz ist, muß man nach Freiräumen suchen. Die 27 Schüler der 6a hatten es satt, daß „das immer so weitergehen soll mit der Gewalt an unserer Schule und überhaupt“ Denn neben den üblichen Schulhofraufereien war es zu immer ernsteren Zwischenfällen gekommen, so daß mehr als einmal der Krankenwagen gerufen werden mußte, um Kinder mit Platzwunden in die Klinik zu bringen. Alltag an deutschen Schulen.

Als im Januar eine Projektwoche unter dem Motto „Leben an unserer Schule“ ausgerufen wurde, mußten die Elfbis Zwölfjährigen nicht lange nach einem Thema für ihr Projekt suchen. „Wir machen einen Film gegen Gewalt“, verkündete Janine nach kurzer Debatte. Alle waren begeistert. „Hollywood in Ost-Berlin“, frotzelte einer der Jungen, „das ist die Sahne, äh!“

Doch wo fängt Gewalt an? Bei den „Ohrfeigen zu Hause“, den „bekloppten Panzern“, den „Gemeinheiten gegen Ausländer“ Doch auch die „beschissene Werbung im Fernsehen“ zählten die Grundschüler dazu, und die Einengung ihrer Möglichkeiten, „wenn es zum Beispiel keine Jugendklubs mehr gibt“ Drei Mitarbeiter der gemeinnützigen Gesellschaft MOBILE, die an einem Projekt zur Suchtprävention in den Ost-Berliner Stadtbezirken mitarbeiten, und ein Mitarbeiter des Berliner Vereins Medienpädagogik boten der Klasse ihre Hilfe an.

In nur drei Tagen drehten die Ktflder ein Video-Magazin ;für S^hüjer, das all di^seThe^ men äüfhehnien sollte. Mittirigezügeltem Enthusiasmus, einem naiven Gespür für Gags

und Szenen und einer ursprünglichen Sensibilität für die Themen gingen sie zu Werke. Die zwölfjährige Janine, die sich sonst hauptsächlich für Mathematik und Zeichnen interessiert, verfaßte ein Drehbuch, die anderen agierten als Kameramänner, Bühnenbildner und Schaupieler. Die Kreativität der Kinder versetzte selbst die Soziologin Barbara Vehring von MOBILE in Erstaunen. Denn die Sozialprognosen nach der Wende hatte im Unterschied dazu einen „lang anhaltenden Identi-

tätsschock“ der Kids im Osten vorausgesagt.

Ein großer Teil der Klasse hat bereits Erfahrungen mit Sucht und Gewalt. „Ich rauche, seit ich neun bin“, erklärt Jörg cool. „Zwischendurch hatte ich mal ein Vierteljahr aufgehört“, fügt er hinzu. „Aber ich brauche das Zeug“, meint der Zwölfjährige und dreht sein Basecap auf halb acht. Robert, der „seit dem 19.10.93“ im Heim lebt, sagt, daß er sich seitdem das Klauen abgewöhnt habe. Das Datum hat sich dem Jungen eingeprägt. „Das Rauchen brauch' ick aber noch“, erklärt er achselzuckend und deutet damit auf seine Hilflosigkeit.

Eine Szene im Film beschreibt die Situation der kindlichen Raucher, die sich in den Pausen hinter der Hofmauer treffen. „Ihr wollt doch nur cool sein“, hält Laila den Jungen entgegen. „Nee, Männer“, antworten die. Mit Rauschgift haben die Kids zum Glück noch keine Erfahrungen. „Wenn uns das jemand auf dem Hof anbieten würde, hätte der bei uns kein Glück“, faßt Anika die Meinung der Klasse zusammen. „Drogen finden wir nämlich alle doof“, fügt Laila hinzu.

Im Video-Magazin gibt es auch eine Talk-Runde: Die beiden „beliebtesten Autohändler Deutschlands“ führen ein Streitgespräch. Der eine verkauft „oliv-grüne, einfarbige, kugelsichere Autos“, der andere die „kleinen bunten zum Spielen und Sammeln“. Während der Panzerproduzent seine Fahrzeuge anpreist, schreit Matthias, der Spielzeugautohersteller, seinem Kontrahenten entgegen: „Autos, die schießen, dürfte es überhaupt nicht mehr geben auf der Welt. Die töten und verbreiten nur Angst und Schrecken und Krieg!“

Es scheint, als hätte Matthias das Rollenspiel vergessen. Der Junge kam erst vor wenigen Monaten in die Klasse. .Er wurde, „strafversetzt“ von einer anderejiiSchule, weil er einen Gleichaltrigen brutal zusammengeschlagen hatte.

RENATE OSCHLIES (epd)

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