nd-aktuell.de / 14.02.2004 / Wissen

Warum Baldrian beruhigt

Bonner Forscher entdeckten unbekannte Substanz im Extrakt der Pflanzenwurzel

Martin Koch
Wohl jeder kennt diese Situation: Man liegt stundenlang im Bett, wälzt sich unruhig hin und her und kann nicht einschlafen. Schon der altgriechische Arzt Hippokrates wusste dagegen ein Mittel: Baldrian. Bis vor kurzem jedoch war weder bekannt, welche Inhaltsstoffe aus dem Pflanzenextrakt beruhigend wirken, noch welche Reaktionen dabei im Körper ablaufen. Ein Bonner Wissenschaftlerteam hat auf beide Fragen jetzt eine Antwort gefunden. Normalerweise wird der Wach-Schlaf-Rhythmus im Gehirn durch spezielle Müdigkeitsmoleküle wie etwa Adenosin gesteuert. »Adenosin induziert Schlaf«, erklärt Christa Müller vom Pharmazeutischen Institut der Universität Bonn. »Wenn man Tiere dauerhaft wach hält, häuft es sich im Gehirn mehr und mehr an.« Sobald Adenosin-Moleküle an bestimmte Nervenzellen-Rezeptoren binden, genauer gesagt an Rezeptoren vom Typ A1, kommt es zu einer biochemischen Kettenreaktion, die Müdigkeit hervorruft. Ein Stoff, der ebenfalls an die A1-Rezeptoren andocken und diese gleichsam blockieren kann, ist Koffein. Die Folge: Der Genuss von Kaffee macht Menschen munter. Schon länger lassen Experimente vermuten, dass auch Baldrian auf die A1-Rezeptoren einwirkt. »Wir wiederholten diese Versuche und konnten bestätigen, dass wässrig- alkoholische Vollextrakte aus der Baldrianwurzel zumindest im Gehirn von Ratten an den A1-Rezeptor binden können«, erklärt Müller. »Außerdem konnten wir erstmals zeigen, dass der Extrakt die Rezeptoren aktiviert.« Mit dieser Entdeckung erregten die Bonner Forscher das Interesse der Schweizer Pharma-Firma Zeller. In einer klinischen Studie maßen Zeller-Forscher die Hirnströme von 48 Versuchspersonen, die zunächst Koffein erhielten. Ergebnis: Die Alpha-Wellen des Gehirns, die Entspannung signalisieren, wurden immer flacher, während die Beta-Wellen, die Nervosität anzeigen, sich verstärkten. Die Einnahme von Baldrian neutralisierte diesen Effekt, was dafür spricht, dass das bewährte Naturheilmittel auch bei Menschen auf den A1-Rezeptor wirkt. Wodurch aber wird dieser Prozess chemisch vermittelt? Den Weg zur Klärung dieser Frage wies eine Forschergruppe aus Marburg, die unlängst herausgefunden hat, dass Baldrian verschiedene Substanzen aus der Gruppe der Lignane enthält. Als Christa Müller und ihre Kollegen diese Pflanzenstoffe genauer analysierten, entdeckten sie eine bislang unbekannte Verbindung, die an den A1-Rezeptor andockt und dort eine ähnliche Reaktion hervorruft wie Adenosin. Adenosin selbst eignet sich nicht als Beruhigungsmittel. Denn es wird innerhalb von Sekunden abgebaut und kann in stabilen Verbindungen den Herzmuskel schädigen, der ebenfalls A1-Rezeptoren besitzt. »Unser Lignan ist dagegen ein partieller Agonist, das heißt, es entfaltet nur bei der hohen Rezeptordichte im Gehirn seine Wirkung«, betont Müller. Die Forscher sind daher bestrebt, das Molekül im Labor nachzubauen und eventuell so zu verändern, dass sich daraus ein verträgliches Beruhigungs- und Einschlafmittel entwickeln lässt.