nd-aktuell.de / 21.07.1994 / Brandenburg / Seite 24

Jiann wachsenneue Sturmvögel nach

Warum es ein Polizist schwer hat, mit Jugendlichen über Gewalt zu reden

Sie erregte Widerspruch, doch im Grunde hatte Ina Grahl, Abteilungsleiterin für Jugendarbeit in Frankfurt (Oder), recht: Gewaltprävention ist nicht zuerst Aufgabe der Polizei. Die macht das ohnehin nur mit halbem Herzen, und dann steht ein Polizist wie Jürgen Schwenzer plötzlich „verdammt einsam“ da, der als einziger zuständig ist für diese Arbeit zwischen Freienwalde, Strausberg und Frankfurt (Oder). Die Faschos kennt er nicht. Die Hausbesetzer kennt er nicht. Und für den von ihm mitinitiierten Malwettbewerb gegen Gewalt wollte ihm bei der abendlichen Diskussion am Montag um „Polizei und Jugend“ im Frankfurter DGB-Jugendzentrum Backdoor niemand das rechte Lob zollen.

Die Besetzer des Kießlinghauses interessierte bei der Veranstaltung eher, weshalb bei ihnen morgens um halb fünf Polizisten die Nachtruhe beenden, während in Rüdersdorf 900 Faschisten gemütlich

feiern können. Und ob es nicht auch mit Rassismus zu tun hat, wenn tödliche Schüsse auf einen kurdischen Jungen als „fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge“ betrachtet werden, wenn Vietnamesen in Polizeigewahrsam Folterungen erleiden, eine Demonstration für offene Grenzen hingegen fast unter der dreifachen Polizeiübermacht verschwindet.

Nein, so wollte Herr Schwenzer das nicht sehen. Und er ist ja bereit, „mit den Jugendfreunden zu reden“ Wahrscheinlich auch, weil die Teilnehmer des Brandenburger Friedensmarsches, die als aufmerksame Gäste an der Diskussionsrunde teilnahmen, ihn ein bißchen dazu drängten. Vor allem Pfarrer Peter Kranz aus Spandau. Der würde sogar den Kaffee spendieren für die ungewöhnliche Veranstaltung.

Die Distanz zwischen dem „einsamen“ Polizisten und den Jugendlichen ist riesig. Vom Klapperskelett Rechtsstaat ha-

ben die meisten der 15- bis 25jährigen bisher nur das Hohnlachen vernommen. Und weil sie gegen Grenzen sind, ihre eigenen und die des Staates aber kennenlernen wollen, haben sie das Haus besetzt. Ihre Vorgänger in der Frankfurter Göre sind gerade umgezogen. In ein rekonstruiertes Haus. Stadtsanierer Andreas Billert hat ihnen eine Rede gehalten. Sie sollen bloß nicht allzu schnell verbürgerlichen. Er braucht sie noch in der Alt^ Stadt, die sie mit Ideen und Leben füllen. Aber wenn jetzt erst einmal die Auslegware wichtiger wird als die Menschheitsrettung, sei das auch keine Schande.

„Dann wachsen neue Sturmvögel nach“, sagte Pfarrer Gehlsen, der als Parteiloser für ein Landtagsmandat der PDS kandidiert, lehnte sich an die Wand und blickte zu den Kießlings herüber. Gehlsen wird sich im Plattenkiez Neuberesinchen mehr um die Älteren

kümmern, „die eine Menge drauf haben, aber dabei sind, zu resignieren“ Wenn Versicherungsvertreter von Tür zu Tür gehen können, warum soll er das nicht auch? Beratungsstellen sollen eingerichtet werden, die Hilfe zu möglichst vielen Lebensfragen geben - von den Hausaufgaben in der Schule bis zum Labyrinth der Sozialbürokratie.

Die 40 Friedensmarschierer gingen nach der Veranstaltung noch mit zu den Besetzern. Bürgermeister Ewert hatte sie vormittags schon empfangen. „An eine Selters hatte er nicht gedacht“, sagte Peter Kranz. ,,Wir hatten gerade 20 Kilometer Fußmarsch hinter uns.“ Jetzt wollten sie noch gemeinsam mit derr Kießlings einen Geburtstag feiern. Jürgen Schwenzer tappelte allein in Richtung Polizeirevier. Es sind wohl noch viele Schritte zu gehen, bis irgendwo Vertrauen wachsen kann.

ERICH SCHECH