nd-aktuell.de / 15.09.2001 / Kultur

Nichts ist ohne Grund

Internationaler Leibniz-Kongress in Berlin - überschattet von Unvernunft

Karlen Vesper
Nihil sine ratione - Nichts geschieht ohne Grund. Mag das blutige Geschehen am elften September unbegreiflich, irrational erscheinen, auch hier ist nach dem Ursächlichen zu fragen. Was gebiert die Gewalt, die uns alltäglich umgibt und die von Zeit zu Zeit und immer häufiger wahnsinnige Eruptionen erfährt? Terror provoziert Terror, Unrecht bringt neues Unrecht hervor, Ignoranz und Arroganz zeugen wiederum ignorante und arrogante Reaktionen. Nihil sine ratione, meinte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716). Und so lautete auch das Motto des VII. Internationalen Leibniz-Kongresses, der diese Woche in Berlin stattfand, einberufen vom Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie der Technischen Universität Berlin, der Leibniz-Gesellschaft Hannover und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die Nachrichten von den mörderischen Anschlägen gegen die USA rissen die über 450 Wissenschaftler aus mehr als 30 Staaten brutal aus ihren geistigen Disputen über Mensch, Natur und Technik im Werk des deutschen Universalgelehrten. Abgebrochen wurde der Kongress nicht, die Teilnehmer verabschiedeten eine Resolution: »Im Geiste von Leibniz wenden wir uns gegen jede Gestalt des Terrorismus, wo immer in der Welt. Im Geiste von Leibniz mahnen wir, seine fundamentalen Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens zu achten: "Neminem laedere! Suum cuique tribuere! Honestum vivere!" Im Geiste von Leibniz fordern wir auf zu Toleranz und Besonnenheit um des Friedens willen - unabhängig von allen Sprachen und Nationen, allen Überzeugungen und Religionen: Toleranz besteht in der Kraft und Stärke, andere Auffassungen zu respektieren, nicht darin, Intoleranz und Terrorismus zu dulden.« Leibniz war überzeugt, dass »niemals etwas ohne eine Ursache oder zumindest einen determinierenden Grund geschieht«. Er bezeichnete dies, wie Hans Poser vom TU-Institut für Philosophie in seiner Eröffnungsrede ausführte, »als den universellen Grundsatz, dem auch die Denker der Antike schon gefolgt seien und der ebenso sehr das neuzeitliche Denken bestimmt, ohne doch je explicite formuliert worden zu sein«. Damit sei weit mehr gemeint, als wir heute damit verbinden, wenn wir von »Tatsachen« reden. Es sei Leibniz um alle Aussagen gegangen, die nicht aus bloß logischen Gründen wahr sind: »Und dazu gehören neben allen Wahrheiten über diese Welt, neben allen Erfahrungswissenschaften ebenso alle moralischen, ethischen und rechtlichen Wahrheiten. Universell ist das Prinzip, weil es in seiner Formulierung so weit gefasst ist, dass es erstens das Existieren wie das Geschehen, die Veränderung umgreift, und zweitens, dass "ratio", "Grund" sowohl eine causa als bewirkende Ursache in der raum-zeitlichen Welt als auch eine Begründung, als auch schließlich jeden Handlungsgrund, also einen Zweck, eine Absicht, eine Finalursache einschließt.« Wenn alles einen Grund hat, erscheinen die Dinge als Einheit in der Vielfalt und in ihren Abhängigkeiten. Das Allgemeine und Individuelle ist in seiner untrennbaren Wechselwirkung zu betrachten, der Makrokosmos im Mikrokosmos und umgekehrt, wie Leibniz in seiner Monaden-Theorie begründete. Ganzheitliches, dialektisches Denken. In diesen Tagen besonders gefordert. Dennoch entschuldigte sich André Robinet (Orchaise) regelrecht, dass sein Referatsthema solch unverhofft aktuelle Brisanz erfuhr: »Ist ein zureichender Grund zureichend?« Der französische Wissenschaftler betonte (oder warnte), dass »das Prinzip des zureichenden Grundes nicht auf das Prinzip des notwendigen Grundes reduziert werden kann«. - Welchen Grundes bedarf ein Vergeltungsschlag? Leibniz war überzeugt, in der besten aller möglichen Welten zu leben. Weshalb ihn der beißende Spott des Zeitgenossen Voltaire traf. Der französische Aufklärer konterte die »Theodizee« des Deutschen mit seinem »Candide«. Etwas unfair, denn Leibniz wusste wohl um die Übel in der Welt und beklagte, dass Kriege gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung hemmen: »Ohne die Kriege wäre man weitergekommen und wäre schon in der Lage, aus unseren Arbeiten Nutzen zu ziehen. Meistens erkennen die Großen aber deren Bedeutung nicht noch sehen sie ein, welcher Güter sie sich berauben, indem sie die Förderung gründlicher Kenntnisse vernachlässigen«, schrieb Leibniz. Wer will behaupten, dass wir in der besten aller vorstellbaren Welten leben? Die Abwesenheit von Vernunft ist allenthalben spürbar. TU-Präsident Hans-Jürgen Ewers erinnerte in seinen Begrüßungsworten an den »Internationalisten« Leibniz, würdigte dessen »prinzipielle Offenheit auch gegenüber fremden Kulturen, die sich so eindringlich in seinem Interesse an China, seinen damaligen Zuständen wie seiner vieltausendjährigen Kultur, äußerte«. Der Professor für Volkswirtschaftslehre plädierte für die Überwindung des Eurozentrismus als eine aktuelle Losung, die sich auf Leibniz beziehen könnte. Nicht zuletzt hatte sich Leibniz für eine Balance der Macht unter den Staaten von Europa über den Orient bis hin zur Neuen Welt ausgesprochen. - Machtbalance garantiert kein Raketenabwehrschild. Es gibt viel im Leibnizschen Werk für Heute zu entdecken. Das hat der Kongress eindrucksvoll bewiesen. Verwiesen wurde u.a. auf Leibniz' universelles Rechtsdenken in seiner Vernünftigkeit. Per Handzettel bewarb Robinet bei den Kollegen für seine neuste Publikation: »Justice et Terreur. Leibniz et le principe de raison« (Librairie Philosophique, Paris). Oder, wie steht es beispielsweise mit dem programmatischen Ansatz »theoria cum praxi«, den Leibniz für seine anno domini 1700 gegründete Akademie wählte? Was folgt aus diesem für die Organisation der Wissenschaften heute? Wie eng sollen, müssen, dürfen die Verbindungen der Wissenschaften zu Industrie und Wirtschaft sein? Welche freiheitssichernden Distanzen sind unabdingbar? Wie steht es mit der Verpflichtung der Wissenschaften, für das »gemeine Wohl« zu wirken? Was sind legitime Forderungen des »gemeinen Wohls« an die Wissenschaft? Fragen, die Ewers aufwarf und die vielfältig erörtert wurden - in der Sektion »Leibniz und die Medizin« im Kontext von Fragen der Ethik und Genforschung. Der Berliner Leibniz-Kongress, so die Organisatoren, sei der größte aller bisherigen Leibniz-Kongresse der Bundesrepublik gewesen, die bis dato stets in Hannover ausgetragen worden sind und deren Spiritus Rector Wilhelm Totok war. Zu dessen 80. Geburtstag ehrten ihn die diesjährigen Kongressteilnehmer als »direkten Nachfolger« von Leibniz an der Niedersächsischen Landesbibliothek. Nun also, elf Jahre nach Beendigung der deutschen Zweistaatlichkeit, erstmals in Berlin. In jener Stadt, in der Leibniz, so Poser, »die wohl glücklichste Zeit seines Lebens« verbrachte, »am Musenhof einer den Wissenschaften und den Künsten zugetanen Monarchin«. Er zitierte aus einem Brief vom 14. Dezember 1701, in dem der Hannoveranische Hofbibliothekar, Theologe, Philosoph, Mathematiker, Physiker und Diplomat der Preußenkönigin Sophie-Charlotte gestand, »ein wenig zum Berliner geworden« zu sein. Da Poser sie nicht erwähnte, sei hier die nette Geschichte vom Leibniz-Bewunderer und ebenfalls kurzzeitigen »Berliner« Karl Marx ergänzt: 1870 ließ sich der im Londoner Exil lebende Philosoph über einen Freund zwei Fetzen der Tapete aus Leibniz Wohnhaus in Berlin beschaffen, das damals abgerissen wurde. In Leibnizscher und Marxscher Tradition sah sich die Akademie der Wissenschaften der DDR. Ihre Leibniz- sowie Marx/Engels-Editionsprojekte sind vernünftigerweise positiv evaluiert und von der Berlin-Brandenburgischen Akademie übernommen worden. Viel ist noch zu tun. Erst 30 der auf etwa 100 Bände angelegten Leibniz-Ausgabe sind publiziert. Es harrt ein Schatz von über 200000 erhaltenen Manuskriptseiten aus Leibniz Feder, die noch erschlossen werden wollen. Nach der Vernunft muss auch die Unvernunft benannt werden. Die Kongressorganisatoren vergaßen (?) die trotz Abwicklung ihrer Institution fortbestehende Gelehrtengesellschaft der AdW der DDR, die Leibniz-Sozietät, offiziell einzuladen. Und dies, obwohl deren Mitglieder, gleich welcher Wissenschaftsdisziplinen, sich ebenfalls Leibniz verpflichtet fühlen. Ihr gehören übrigens u.a. der in der Schweiz lebende renommierte Leibniz-Experte Hans Heinz Holz wie auch der anerkannte Leipziger Spinoza-Forscher Helmut Seidel an, die immerhin persönliche Einladungen erhielten. Doch was war der Grund für die offizielle Ignoranz? Nihil sine ratione.