nd-aktuell.de / 13.03.2004 / Kommentare
Polemik gegen den Konstruktivismus
Eine Studie über Theoriebeladenheit und Objektivität
Dieter Wittich
Ein noch junges Editionshaus nimmt sich eines alten erkenntnistheoretischen Themas an. Im vergangenen Jahr erst gegründet, kann der Ontos Verlag in Frankfurt (Main) schon mit einem zweiten Band seiner Reihe »Epistemische Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie« überraschen.
Diese Reihe wird von dem Lausanner Professor für Wissenschaftsphilosophie Michael Elsfeld und dem Jenenser Dozent für Medienwissenschaft Mike Sandbothe wissenschaftlich betreut. Beide gehören der jüngeren Wissenschaftler-Generation an und wollen noch jüngeren Kollegen zu erfolgreichem wissenschafts-publizistischen Einstieg verhelfen. Wie etwa Matthias Adam, der erst kürzlich an der Universität Bielefeld zum Thema der hier anzuzeigenden Publikation promovierte.
Das Phänomen ist in der Philosophie, aber auch in manchen Naturwissenschaften, seit Jahrhunderten bekannt, allerdings unter anderem Namen. Etwa bei Kant: als das Problem, wie reine Anschauungsformen oder Verstandsbegriffe, die jedem Erkennen vorausgehen würden, eine kognitive Aneignung der Wirklichkeit mitgestalten.
In der Sinnesphysiologie wurde die Problematik lange Zeit unter dem Titel »spezifische Sinnesenergie« behandelt, d.h. ursprünglich als die Annahme, dass eine den menschlichen Rezeptionsorganen innewohnende »Kraft« die Sinnesdaten prägt. Im Marxismus wurde sie seit Marx und Engels als »Rückwirkung des Rationalen auf das Sinnliche« bzw. als eine solche des »Theoretischen auf das Empirische« angezeigt usw.
Leider schenkt der Autor dem philosophiehistorischen Hintergrund seines Themas kaum Beachtung. Die »Theoriebeladenheit der Beobachtung(en)« erscheint so als etwas, mit dem um 1960 herum die US-Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn und Norwood Russen Hanson - als die Erfinder dieser Bezeichnung - gleichsam wie zwei »dei ex machina« das wissenschaftliche Leben beglückt haben.
Weit produktiver ist Adam dort, wo er Einflüsse, die Theorien auf Wahrnehmungen tatsächlich (oder der Behauptung nach) ausüben, eingehend analysiert und kommentiert. Ständig verdeutlicht er dabei, ohne das ausdrücklich zu vermerken oder auch zu bemerken, dass es ein Unterschied ist, ob man eine These philosophisch deklariert oder sie in die empirische Forschung einfließen lassen möchte. Letzteres ist wohl das eigentliche Anliegen von Adam, jedenfalls sind dort die Stärken seiner Schrift zu finden. Klar bestimmt er, dass eine Theoriebeladenheit von Beobachtungen nur dann vorliegen kann, wenn man ohne eine bestimmte Theorie »oder mit einer anderen Theorie keine oder eine andere Beobachtung gemacht« hätte. Besagt diese These, fragt Adam weiter, dass es von der jeweiligen Theorie abhängt, ob man aus ihrem Gegenstandsbereich überhaupt etwas wahrnimmt? Oder nur, was und wie man etwas wahrnimmt?
Adam setzt sich eingehend mit den Positionen auseinander, die vor mehr als vierzig Jahren die Verfasser des Konzepts von der Theoriebeladenheit der Beobachtungen, Hanson und Kuhn, zuerst vorgetragen hatten. Während sie meinten, dass vorgegebene theoretische Konzepte keineswegs ausschließlich den kognitiven Gehalt von Sinnes- und empirischen Daten festlegen, hat später u.a. Paul Feyerabend das Konzept zu radikalisieren versucht. Feyerabend schätzte nämlich für wissenschaftliche Wahrnehmungen den Einfluss objektiver Impulse als überaus gering ein oder bestritt ihn gänzlich.
Besorgt fragt deshalb Adam: »Hängt es gar nicht von der Beschaffenheit der Welt ab, welche Beobachtungsergebnisse man erhält?« Er will mit seiner Arbeit herausfinden, »ob die Theoriebeladenheit die Objektivität wissenschaftlicher Beobachtungen in Zweifel zieht.« Das leitet Adam zu der weiteren Frage, inwiefern und in welchem Maße Beobachtungen theoriebeladen sind oder sein können.
Der Autor, der eine Theorieabhängigkeit von Beobachtungen nicht bestreitet, kommt zu dem Resultat, dass diese die Objektivität von Erkenntnissen nicht in Frage stelle. Er wendet sich damit gegen einen dem widersprechenden »wissenschaftssoziologischen Konstruktivismus«, den er als »Hauptströmung der gegenwärtigen soziologischen Wissenschaftsforschung« bezeichnet.
Das Resultat seiner Analysen und Überlegungen dürfte jeden Realisten und Materialisten erfreuen: Die Theoriebeladenheit der Beobachtungen stelle deren Objektivität nicht in Frage. Leider umgeht der Verfasser bei seiner Polemik gegen den Konstruktivismus die Frage, ob im Gegenteil - durch die genannte Theoriebeladenheit - die Objektivität des Erkennens nicht gestärkt oder sogar erst ermöglicht wird. Das Ergebnis seiner Studie wäre sicher dann deutlich überzeugender ausgefallen, wenn Adam in seine Überlegungen auch den praktischen Umgang mit theoretischen Konzepten einbezogen hätte. Denn wenn diese sich praktisch bewähren, dann muss wohl auch den ihnen zu Grunde liegenden sinnlichen und empirischen Daten ein Maß an Objektivität zugebilligt werden.
Die vorgestellte Studie ist sprachlich gut verständlich. Die für Adams Anliegen wichtigen Bezeichnungen werden möglichst eindeutig eingeführt. So differenziert er terminologisch sehr detailliert zwischen Gegenständen, die gewöhnlich unterschiedslos mit »Beobachtung« bezeichnet werden. Ein Literaturverzeichnis verweist auf zahlreiche neuere Publikationen zum Anliegen der Arbeit.
Matthias Adam: Theoriebeladenheit und Objektivität. Zur Rolle von Beobachtungen in den Naturwissenschaften. Ontos Verlag, Frankfurt/London 2003. 276S., 59 EUR.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/50195.polemik-gegen-den-konstruktivismus.html