In der Tiefe ist viel Raum

Zum 75. Geburtstag von Christa Wolf - Schreiben als Lebensort

  • Silvia und Dieter Schlenstedt
  • Lesedauer: ca. 7.5 Min.
Was mag Es denken lassen in Christa Wolf, heute, da sie ihr 75. Jahr vollendet? Wird sie sich das Recht zusprechen, einverständlich auf ein Leben zu sehen, in dem fortgesetzte Anstrengung über Zeitbrüche hin eine Sinnlinie bildet? Wird sie sich gelassen der bestätigenden und der verwerfenden Worte erinnern, die sie in den 40 Jahren ihrer Schriftstellerexistenz erfuhr, der Ehrungen und der Kränkungen, die ihr aus dem gespaltenen und dem zusammengeworfenen Deutschland zuteil wurden? Sie weiß seit langem: Älterwerden heißt: alles geschieht, was du niemals für möglich gehalten hättest. Oder werden die Selbstzweifel aufleben, die sie so häufig anfielen im Gefühl, für alles in den neueren Welten mit verantwortlich zu sein? Vermutlich wird bei einem Resümee von all dem etwas dabei sein. Wir bauen, wenn wir Christa Wolf Glück wünschen zu ihrem Tag, vor allem auf die Kraft, die in ihr wirkt, die ihre Aura ausmacht - das Beharrliche, den stillen Mut, sich immer wieder aufzurichten, das Widerstehen. Aber zuvörderst haben wir uns zu gratulieren - dass es ihre Stimme gibt in der deutschen Literatur. Da sind Sätze bei ihr, die prägen sich ein für lange Zeit, Sätze wie Signale, aufrufbar auch in anderen Lebenslagen und Spannungen als am Ursprungsort: Wann - wenn nicht jetzt? - Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. - Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt. Und da ist der Ton, der uns begleitet, die intensive drängende Rede, die Eindringlichkeit des Fragens und Infragestellens, die eigentümliche Schwebe von Selbstgespräch und Anrede des Lesenden. Verlangt wird, nach den Wurzeln von Verhalten und Gefühl zu suchen, bewusst oder unbewusst Verdecktes offen zu legen. Unbequem ist dieses poetische Verhalten, auch für die, die schreibt. Vielleicht gerade wegen seiner suggestiven Energie polarisierte es, rief auch mancherlei Abwehr hervor. Und dies sehr lange schon, spätestens seit dem Buch »Nachdenken über Christa T.«, in dem Christa Wolfs Ton, das Zusammengehen von entblößendem Fragen, Nachgraben, Freilegen von Verlusten und neuem Bedürfnis bestimmend wurde. Ihr Vorgehen traf auf Ablehnung, Verdächtigung, Missverstehen - es sei zu subjektiv, ein Abweg von Rationalität und objektiven Gegebenheiten zu Gefühl und Innerlichkeit, es käme aus Schwäche, die andere ebenso schwächt, sei voller Larmoyanz und praxisfern romantisch. Zum Leben der Autorin Christa Wolf gehört die wiederholte Erfahrung solcher Reaktionen und solcher Angriffe. Ihr und vielen ihrer Leser mögen sie gezeigt haben, welche Bereiche jeweils in einer gesellschaftlichen Konstellation und Öffentlichkeit als unverträglich abgetan werden sollten - also wichtig waren. Im Denken Christa Wolfs ist Tiefe ein wichtiges Wort. Es erscheint in den Tagebuchnotierungen von 1960 bis 2000 »Ein Tag im Jahr« zuerst 1965, in einer Zeit bösen Geschehens, das den Vorhang von Illusionen zerriss, die junge Frau in die Wirklichkeit stieß, zugleich in die Ahnung von Wirklichkeiten dahinter, das sie spüren ließ, wie der ehrliche Versuch zum eingreifenden gesellschaftlichen Mitwirken begrenzt wurde. Ein neuer Fluchtpunkt der Perspektivität wurde bestimmend: Doch in der Tiefe ist viel Raum. Tiefe wird über Jahre und Jahrzehnte ein leitender Impuls fürs Schreiben, wird Motiv und Thema, strukturiert wichtige Stücke der Prosa. In einer entzauberten Welt sind geglaubte Sicherheiten, auch des Wissens, nicht mehr zu haben. Um die quälende Erkundung geht es, um das, was Menschen, den Einzelnen, die Gruppen, ganze Kulturen antreibt und bewegt, hemmt und zerstört. Im Planen sind die Antworten nicht zu finden. Das Entscheidende liegt unter den Oberflächen, im Inneren, in den die Erscheinungen prägenden Strukturen. Es kann nicht auf dem Weg einlinearer Ableitungen gefunden werden, es braucht die Einsicht in das Geflecht komplexer Wechselwirkungen. Tiefe und Ernsthaftigkeit sind in der Poetik Christa Wolfs gekoppelt. Fern steht diese den Appellen der Postmoderne, die (mit Ihab Hassan) den Verlust von Tiefe, eine Flachheit ohne die innen/außen Dimension, den Verzicht auf die Durchdringung von Natur und Kultur begrüßt, zusammen mit dem reinen Licht der Abwesenheit eines moralischen Grundprinzips, mit der Ironie asozialer Praxis, dem Unernst der Beliebigkeit. Literatur berührt die Autorin, wenn ein Schreiber aus der Tiefe seiner Selbsterfahrung zu ihr spricht, und sie selbst fühlt sich zum Schreiben legitimiert nur, wenn sie an Schmerzpunkte kommt. Die Hemmung kann groß sein, unnachsichtig über sich selbst zu schreiben, sich zu nahe zu treten, auf die dunklen Stellen Licht zu werfen, die der blinde Fleck unserer Wahrnehmung hinterlässt, auch der blinde Fleck der Selbstwahrnehmung, wie notwendig der als ein Selbstschutz wirken mag. Der Versuch, der Wirklichkeit, dem Wirkenden auf den Grund zu kommen, unerschrocken ins Herz der Finsternis zu dringen, gehorcht nicht der Systematik eines Weltentwurfs - der Einzelne, das Einzelne interessiert sie, deren Bedeutung und Wertigkeit, und bewundernswert ist die Konsequenz, mit der Christa Wolf verschiedenen Dimensionen des Verhältnisses nachgeht. Der Lebensverlauf gegenwärtiger Menschen wird zu einem Feld dieses Sondierens. In »Kindheitsmuster« wird Tiefe des individuellen Daseins an der Erinnerung vorgestellt, die Gegenwart und Vergangenheiten, Bilder des Alltags und des historischen Gangs verbindet, in einer Prosa, die auf ihre Weise das Problem löst, die einander überlagernden Schichten, aus denen "Wirklichkeit" besteht, aufzubewahren. Vorgestellt wurde, wie eine neuere Zeit die ältere enthüllt, wie frühe soziale Erfahrung, Sozialisierung zu weiterwirkenden Ablagerungen im Ich führen, wie sie dem Vergessen, Verdrängen entrissen werden müssen, will man wissen, wer man ist. Ereignisse eines Tages, in dem sich Geschichte spiegelt, bilden den Anlass zum Eintauchen in die Tiefe. Was tun wir, wenn wir Apparate und Verhältnisse produzieren, die uns vernichten können? - Das lässt in »Störfall« die Katastrophe von Tschernobyl fragen. Wie kann es sein, dass die Aufklärung, die Wissenschaft, die Technik mit ihren Segnungen und humanen Entwürfen Monster gebären? Reicht es zur Erklärung, die Instrumente der Entfremdungskritik zu schärfen? Liegt nicht unter den sozialen Mechanismen eine ungeheure Schicht, in der der »Sog des Todes«, die Doppelbindung von Lustbefriedigung und Zerstörungsdrang verhaltensbestimmend geworden ist? Und Vorgeschichte wird zum Gegenstand. Lebensbilder mythischer Figuren werden neu gesehen, in einem Gemenge aus Ferne und Nähe: »Kassandra« und »Medea«. Nicht einfach vom Ungenügen der Gegenwart hervorgetriebene Parabeln der Aktualität werden mit diesen Gestalten gegeben, schnell entschlüsselbare Modelle für das Selbstzerstörerische eines hypertrophen Sicherheitsdenkens oder für die verarmende Kolonisierung beim Zusammenstoß von Kulturen verschiedenen Entwicklungsniveaus. Es geht um die lange Geschichte der Menschheit: Kulturen haben ihre Leichen im Keller, versteckt und mit einem Tabu belegt, patriarchalische Verhältnisse bestimmen Denken und Überlieferung; gravierend sind die Folgen, dass das Weibliche unterdrückt wird, verdrängt, an den Rand getrieben. Und es geht in diesem anthropologischen oder doch zumindest die Natur des Menschen in der Zivilisation aufhellenden Erkunden darum, auf Substrate zu kommen, die nicht nur sozial bestimmt sind. Gerade dieser Dimension von Tiefe wollen Arbeiten der neueren Zeit beikommen, den Wechselwirkungen zwischen Psyche und Physis. »Leibhaftig« konfrontiert uns mit dem Verlauf einer lebensbedrohenden Krankheit. In die Tiefe des Körpers geht die innere Archäologie, in einen Schacht, in dem schattenhaft sich abzeichnet, wie die Unterschiede zwischen Geistigem und Körperlichem sich aufheben, wie eines auf das andere wirkt, eines aus dem anderen hervorgeht. Erfahren wird, dass es die Hölle einer Zeit ist, die sich konzentrieren kann in Höllenbildern des Inneren, dass Widersprüche angesichts unzumutbarer Ansprüche der Gesellschaft, die unbewältigten Konflikte zwischen Integration und Integrität ihren Austragungsort in unserem Körper finden, ihren Ausdruck in Krankheiten haben können. Der Gewinn dieses Motivations- und Wahrnehmungsbündels hat mit dem besonderen Erfahrungsraum des Sozialismus zu tun, mit dessen übermächtig werdender Destruktivität und dessen Zusammenbruch. Zugleich war anderes berührt. Durch das Vordringen in die Tiefe wurde erreicht, was in mehr als nur einer Formation von Gesellschaft zu Tage tritt: der Grund hierarchischer Verhältnisse, platter Machterhaltung, verselbstständigter Ökonomie, isoliert betriebener Wissenschaft, unter deren Hegemonie menschengemäße Lebensziele schwinden; der Grund einer menschlichen Natur, die es unmöglich macht, dass sich die Vielen unbegrenzt an beliebige gesellschaftliche Zustände anpassen. Die modernen Industriegesellschaften bilden den Horizont im Erzählen Christa Wolfs, auch wenn es von Vorgeschichte, der Zeit nach 1800 oder Sozialismus handelt. Was Aufmerksamkeit, Sympathie, Offenheit fand, vielerorts in der Welt, grenzenübergreifend, das ist sicher nicht allein das Kritische, das Zum-Vorschein-Bringen von Defiziten im historisch Gegebenen. Es ist zugleich das andauernde Bestreben, nach den widerständigen Kräften zu fragen und hoffend auf sie zu bauen, so schwer dies immer wieder fallen mag. Sprechend, anderen zugewandt - das wird zu einer Maxime. Die öffentliche Selbstbefragung, zu der immer wieder neu anzusetzen die Autorin sich gedrängt fühlt, ist getragen von einem dialogischen Prinzip. Einladung zum Gespräch sind seit 1990 auch die dokumentierenden Bücher mit Material aus den zurückliegenden 40 Jahren. Es offenbart, wie Zeitgeschichte durch Individuen erlebt, unterschiedlich erfahren wurde. Zur Verfügung gestellt werden Tagebuchnotierungen und Briefe, worin Christa Wolf für Leser aus der DDR auch eine Handreichung für ein genaues Sich-Erinnern sieht. Neben die Bände mit eigenen Essays und Reden und den gewichtigen »Ein Tag im Jahr« (2003) treten Korrespondenzen: 1990 »Angepaßt oder mündig? Briefe an Christa Wolf im Herbst 1989«, die Briefwechsel mit Brigitte Reimann (1993), mit Franz Fühmann (1995), mit Anna Seghers (2003), mit Charlotte Wolff (2004). Solche Bücher sind gegen den Druck des Zeitgeists gestellt, die Mißachtung des historischen Denkens, das Simplifizieren der von den Menschen erlebten und ausgetragenen Widersprüche. An einem »Tag des Jahres«, 1996, wird die Befürchtung festgehalten, die Erinnerungen, die in Räumen der untergegangenen Gesellschaften spielen, würden ortlos und durch den Zeitgeist zum Schwinden gebracht. Dass da doch ein Ort ist, zeigen die ...

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