Für eine wahlpolitische Alternative 2006

Wozu eine »neue Linkspartei«? ND dokumentiert das Diskussionsangebot einer der Initiativen

»Wahlbeteiligung, Wahlergebnisse und Mitgliederbewegung der Parteien zeigen, dass viele Bürger sich von der Politik der Agenda 2010 betrogen fühlen, zugleich keine politische Alternative sehen und sich daher zur Haltung der politischen Abstinenz entscheiden. Politische Resignation und Passivität bringen uns dem unverzichtbaren politischen Kurswechsel nicht näher. Nur wenn die sozialen Interessen und solidarisch-emanzipatorische Werthaltungen auch parlamentarisch-politisch zur Geltung gebracht werden, kann ein weiterer neoliberal bestimmter Umbau der Gesellschaft verhindert und eine andere Politik durchgesetzt werden. Wir wollen die Entwicklung eines breiten politisch-sozialen Bündnisses vorantreiben, in dem eine inhaltliche Verständigung über einen Politikwechsel und die Perspektive einer Wahlalternative im Zentrum steht.« Mit diesen Worten beginnt ein von der »Wahlpolitischen Alternative 2006« präsentiertes Strategiepapier, das im folgenden auszugsweise dokumentiert ist (Zwischenüberschriften von ND).

In den letzten Jahren ist die von SPD und Grünen getragene Bundesregierung und mit ihr das gesamte parlamentarisch-politische Spektrum weiter nach rechts gerückt. Die Politik für einen neoliberal geprägten Umbau der Gesellschaft ist radikalisiert, ideologisch befestigt und gesetzgeberisch umgesetzt worden. Das Stichwort des Jahres 2003 dafür ist die »Agenda 2010«. In Massenmedien, Wissenschaften und vielen anderen zivilgesellschaftlichen »Schützengräben« konnten die Kräfte des Neoliberalismus und des Kapitals weitere Geländegewinne erzielen.
Gleichzeitig hat sich eine wachsende Opposition gegen neoliberale Globalisierung und gegen den Abbau sozialer Rechte entwickelt. Eine Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und ein Ende der Politik der Kürzungspolitik zeichnet sich nicht ab. Insbesondere im Bereich der gewerkschaftlich und der bisher überwiegend sozialdemokratisch orientierten Arbeitnehmer, aber auch der Jugend und der Rentner, macht sich politische Frustration und Oppositionsbereitschaft breit. Auf der anderen Seite steht verbreitete Desorientierung und politische Resignation.
Diese Entwicklung wird sich im Jahr 2004 zunächst fortsetzen, wenn die Menschen die realen Auswirkungen der »Reformen« zu spüren bekommen und im Frühjahr die Mobilisierung der sozialen Opposition und fortschrittlicher Gewerkschaften einen neuen Höhepunkt erreicht. Die weitere Perspektive ist offen und hängt wesentlich an zwei Problemfeldern:
Erstens: Die soziale Opposition ist sich einig in der Ablehnung des Sozialabbaus, jeglicher Kriegspolitik und Aufrüstung und in der abstrakten Behauptung, eine politische Alternative sei möglich. Sie ist schwach und uneinig in der Deutung der Krisenprozesse und ihrer Ursachen und in der Darstellung, wie denn eine Alternative aussehen könne, die nicht nur gerechter ist, sondern auch die Probleme besser bewältigt.
Wollen wir in die Offensive kommen und die Tendenz zur politische Resignation beenden, müssen sowohl das bürgerliche Lager als auch die rot-grüne Koalition auf dem zentralen Feld ihres Diskurses attackiert werden. Die Probleme müssen als Ergebnisse falscher, neoliberal geprägter Politik und von Krisenprozessen und Widersprüchen aufgezeigt werden, die die kapitalistische Ökonomie aus sich heraus hervorbringt.

Die Grundlinien einer Alternative aufzeigen

Die Grundlinien einer Alternative müssen aufgezeigt werden, die die soziale Lage und Perspektive der Mehrheit der Bevölkerung spürbar verbessern würde. Vor allem brauchen wir mehr und sinnvolle Beschäftigung zu sozialen Bedingungen und die Entwicklung sozial und ökologisch nützlicher Wachstumsfelder. Zu präsentieren wäre dazu im Kern ein sozial und ökologisch und emanzipativ ausgerichtetes Zukunftsprogramm einer alternativen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sowohl Defaitismus (»eine Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ist sowieso aussichtslos«) wie abstrakter Linksradikalismus (»nur die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus ist eine Perspektive«) wirken desorientierend. Ebenso desorientierend ist es, Lösungen gar nicht mehr in Veränderungen staatlicher Politik, sondern nur noch zivilgesellschaftlich und im Wirken dezentraler, selbst organisierter Netzwerke und alternativer Zusammenhänge in Nischen der Gesellschaft zu suchen und damit aus der Not eine Tugend zu machen.
Zweitens: Den vielen Betroffenen des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft - Beschäftigten und Erwerbslosen, Rentner und Kranken, Studierenden, allein Erziehenden und vielen anderen - und ihrer sozialen Unzufriedenheit fehlt ebenso eine parlamentarischpolitische Repräsentanz wie der sich entwickelnden sozialen Bewegung und außerparlamentarischen Opposition oder den Gewerkschaften. De facto sind wir heute ein Land ohne wirkliche und wirksame parlamentarische Opposition, denn CDU/CSU/FDP vertreten nur eine noch radikalere Variante des neoliberalen Gesellschaftsumbaus. Im ersten Schritt entwickelt sich die Gegenbewegung gerade in Abgrenzung und zur Artikulation von Protest gegenüber der herrschenden Politik und allen etablierten Parteien. Aber in dem Maße, wie sie an gesellschaftlicher Breite und politischer Bedeutung gewinnt, stellt sich zunehmend die Frage nach ihrem Bezug zur politisch-parlamentarischen Ebene und nach ihrer Durchsetzungsperspektive.
Bisher ist die Hauptantwort die, dass es darum geht, gesellschaftlichen Druck zu entwickeln und das politische »Klima« so zu verändern, dass alle Parteien und Institutionen darauf reagieren und sich das politische Koordinatensystem wieder nach links verschiebt. Dazu sei ein langer Atem notwendig. Die Antwort ist richtig, aber unzureichend. Sie lässt die Frage offen, wie sich die Menschen denn nun als politische Subjekte in den Situationen verhalten sollen, wenn sie mal die Wahl haben. Und vor allem blendet sie aus, wie wichtig die parlamentarisch-politische Ebene und institutionalisierte Machtpositionen zur Durchsetzung von Interessen, aber auch für die Entwicklung längerfristig mächtiger Diskurse und der öffentlichen Meinung sind.
Traditionell diente dazu insbesondere das Zusammenspiel von Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Diese Verbindung ist in den letzten Jahren immer mehr zerbrochen, die SPD und die Grünen agieren als Mehrheits- und Akzeptanzbeschaffer für eine Kapitalinteressen unterworfene Politik, die sie in der Substanz nur geringfügig gegenüber den Forderungen des neoliberal dominierten Mainstream modifizieren. Bewegung alleine reicht nicht, jedenfalls wenn es nicht nur um Einzelfragen, sondern um grundsätzliche Verteilungs- und Machtauseinandersetzungen geht, die das Projekt des herrschenden Blocks im Kern angreifen. (...)
Wir leben in einer parlamentarischen Demokratie, die Rahmenbedingungen für die Durchsetzung politischer Veränderungen vorgibt, und die eine Errungenschaft darstellt. Demonstrationen und auch politische Streikaktionen haben letztlich den Zweck, Druck auf die Parlamente auszuüben - so wie es Unternehmen, Arbeitgeberverbände oder andere finanzkräftige Lobbygruppen alltäglich und mit weit geringerer demokratischer Legitimation tun, bis hin zu regelrechten Erpressungsversuchen, wenn es um Investitionen oder angedrohte Verlagerungen von Arbeitsplätzen geht.
Es geht um die Frage, wie und mit welchen parlamentarischen Kräften die Anliegen der außerparlamentarischen Bewegung - die selbstverständlich die primäre Bedeutung für fortschrittliche politische Veränderungen hat - in staatliches Handeln umgesetzt werden können. Daher geht es ganz konkret um die Bundestagswahl 2006 und davon ausgehend um die zukünftige politische Landschaft in Deutschland und Europa. Denn es besteht auch das Risiko, dass die soziale Oppositionsbewegung in den folgenden Jahren unter dem Eindruck des weiteren neoliberal dominierten Umbaus der Gesellschaft frustriert abflaut.

PDS schöpft das Potenzial nicht aus

Um den Neoliberalismus im parteipolitischen Raum zurückzudrängen, müssen wir ihn auf dem eigenen Terrain angreifen. Um politisch voran zu kommen, ist eine ernst zu nehmende wahlpolitische Alternative nötig, die den außerparlamentarisch in der Gesellschaft entwickelten Druck ins politische System transformiert. Dies erscheint schon allein deshalb sinnvoll, um der weiteren Rechtsentwicklung der SPD eine Schranke zu setzen.
Im bestehenden parteipolitischen Raum bietet sich dazu nur die PDS an. Bei aller Kritik an der PDS hat ihr Ausscheiden aus dem Bundestag 2002 den sozialreaktionären Kräften ihren Vormarsch in der Politik und in der öffentlichen Meinung erheblich erleichtert. Auf der anderen Seite bleibt diese Option hinter den Erfordernissen und den gesellschaftlichen Möglichkeiten dramatisch zurück. Die PDS ist nicht in der Lage, den überwiegenden Teil des Potenzials für eine wahlpolitische Alternative auszuschöpfen. Für einen Großteil des Potenzials ehemals sozialdemokratischer, grüner oder sonstwie linker Wähler und sozial enttäuschter Nichtwähler kommt sie nicht in Frage. In den letzten Jahren hat sie sich durch ihre Regierungsbeteiligung in Berlin zusätzlich desavouiert. Sie erscheint als sehr auf sich selbst und auf Mitregieren fixiert. Sie bzw. ihre führenden Vertreter sind offenbar für die notwendige klare und offensive und zugleich populär vorgetragene Gegenposition zum Neoliberalismus in der öffentlichen Auseinandersetzung weder politisch- inhaltlich noch kulturell geeignet.
Bleibt die Alternative, eine neue, eigenständige politische Formation zu entwickeln, die bei der Bundestagswahl 2006 mit Aussicht auf Erfolg anzutreten in der Lage ist.

Perspektive 2006: Ganz klar Opposition

Es geht darum, den sozialen Bewegungen bzw. ihren Positionen eine parlamentarisch-politische Artikulationsmöglichkeit zu bieten, die dann auch in den öffentlichen Debatten mit klaren Positionen präsent ist und wirken kann. Dies gilt zunächst für die Situation des Wahlkampfes selbst.
Mit Blick auf einen erfolgreichen Wahlausgang geht es parlamentarisch ganz klar um Opposition, nicht um mögliche Beteiligung an einer Regierungskoalition, solange nicht die denkbaren Partner ihre Positionen grundlegend in unsere Richtung verändert haben und wieder reale Fortschritte durchsetzbar sind, wovon absehbar nicht auszugehen ist. Erfolgsmaßstab ist die Ausschöpfung des Potenzials in der Wahlbevölkerung, das aus Positionen sozialer Gerechtigkeit oder anderen von links anzurufenden Motiven oppositionell oder zumindest unzufrieden mit der herrschenden Politik ist. Ein Einzug ins Parlament hat dann die Aufgabe, die sich daraus ergebenden Ressourcen und Strukturen für eine weitere Aufklärung der Bevölkerung und für die Inszenierung breiter gesellschaftlicher Debatten zu nutzen und so Kräfteverhältnisse weiter zu verbessern.
Es gibt ein Potenzial, das deutlich über das bisherige links von SPD und Grünen hinausgeht und in erheblichen Teilen auch gar kein im Selbstverständnis linkes Potenzial ist - auch das konnte die PDS im Westen nie annähernd erreichen. Es sind sehr viele Menschen empört und für Proteste ansprechbar, die das bisher noch nie waren, und noch mehr, die auch für ein anderes Wahlverhalten mobilisierbar wären. Im Verlauf des letzten Jahres ist eine neue Lage entstanden, noch nie gab es einen solchen Zerfall des bisherigen sozialdemokratischen Wählerlagers, und zwar auf Grund der Sozialkürzungen und damit insbesondere im sozial schwächeren und gewerkschaftsnahen Milieu. (...)

Wer nicht gegen uns ist, ist für uns

Es muss ein breites Spektrum der Bevölkerung angesprochen werden. Im Kern sind das die Arbeitnehmermilieus, die auch die Hauptbasis für Rot-Grün sind bzw. waren. Die Wahlwerbung und Darstellung der Inhalte müssen populär, klar und einfach sein und Leute ansprechen und gewinnen, nicht ausgrenzen. Das Herangehen muss sein: Wer nicht gegen uns ist, ist für uns. (...)
Programmatisch müssen die Gegenpositionen und Alternativen zur Politik des neoliberalen Gesellschaftsumbaus, des Sozialabbaus und der Umverteilung von unten nach oben im Mittelpunkt stehen. Aber auch die anderen zentralen Anliegen der demokratischen Bewegungen müssen aufgegriffen werden (Frieden, Ökologie, Frauen, Globalisierungskritik, offener Bildungszugang, Wissenschaftskritik, Interessen der Migranten). Hier gibt es reichlich Vorarbeiten, etwa durch die Initiative für einen Politikwechsel, Memorandum-Gruppe, Attac, in Gewerkschaften usw. Hier sind bei allen Differenzen im Einzelnen und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen genügend Gemeinsamkeiten vorhanden. Diese gemeinsamen Positionen fortschrittlicher sozialer und politischer Kräfte müssen populär dargestellt werden, um Massen zu mobilisieren. Es geht nicht um eine neue explizit linkssozialistische Partei.
Eine solche Herangehensweise muss die grundlegende Strategie der das Projekt als aktiver Kern tragenden und führenden Kräfte sein. Es geht also um eine breite Sammlung bzw. ein Bündnis, das niemanden ausschließt (außer Rechten), aber auch keine Dominanz einer bestimmten Gruppierung oder Strömung zulässt. Das Spektrum sollte reichen von Kommunisten über Sozialisten bis zu traditionellen Vertretern des Sozialstaats und sozial orientierten Christen. Es muss ein möglichst breites Spektrum von Aktiven aus Gewerkschaften, Bewegungen und von Organisationen und Initiativen aus verschiedensten Bereichen einschließen. Dies gilt ausdrücklich auch für Mitglieder der SPD, der Grünen, der PDS oder anderer nicht rechter oder minderheitenfeindlicher Parteien. Es muss ein für alle, die die grundsätzlichen Ziele teilen, offenes Angebot für Unterstützung und Mitmachen sein. (...)
Viele halten eine Wahlalternative und neue politische Formation für nötig, sind aber skeptisch, ob ein solches Projekt realisierbar ist. Das entscheidet die Praxis, es passiert nicht einfach so oder anders, sondern es muss getan werden. Es erscheint nicht unmöglich, also müssen wir es zumindest versuchen. Wenn sich herausstellen sollte, dass es doch (noch) nicht zu schaffen sei, kann die erreichte Formierung dennoch wichtig sein für Zwischenschritte und für die Zukunft. Die Chance für eine neue soziale Kraft besteht. Wir wollen versuchen, sie zu nutzen.

Die vollständige Version findet sich im I...

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