Ein Zahlenwerk der guten Taten?

Abgeordnetenhaus behandelt heute rot-roten Doppelhaushalt 2004/2005

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Opposition rüstete mit Blick auf die heutige Haushaltsdebatte gestern in der Aktuellen Stunde schon einmal zur traditionellen und nicht selten rituellen unversöhnlichen Abrechnung mit der Koalition. Warum sonst wäre wohl immer wieder der »Mentalitätswechsel« von ihr in die BVG-Debatte gebracht worden. Rot-Rot wiederum legte die Argumente bereit, warum alles so und nicht anders geht. Dazu blickt man zuweilen gern zurück auf andere handelnde Personen und Konstellationen. Weniger in der Debatte selbst, wo man zusammenhält, sondern vielmehr für Tage, Monate und Wahlen danach grenzt man in einer Koalition auch gern schon mal die eigenen guten von den mindestens nicht ganz so guten Taten des Partners ab. Da dies jeder versucht, könnte selbst ein noch so unerbittlicher Sparhaushalt am Ende sogar als Zahlenwerk der guten Taten erscheinen. Einig sind sich SPD und PDS darin, dass der Haushalt 2004/2005 maßgeblich über die Chancen der Notlage-Klage Berlins vor dem Bundesverfassungsgericht entscheidet. Denn Voraussetzung für eine Sanierungsbeihilfe von Bund und Ländern ist neben dem Nachweis der materiellen Kriterien der Notlage auch ein langfristiges Sanierungsprogramm. Die Mühe kann lohnen, denn Berlin klagt auf 35 Milliarden Euro Entschuldungshilfe. Die Rolle des Buhmannes ist mit Thilo Sarrazin (SPD) als Finanzsenator für beide Koalitionspartner glänzend besetzt. Dieser zieht Empörung und Zorn auf sich, holt der Politik mit seinen nicht selten bedacht aggressiven Vorstößen jene Räume zurück, die sie zum glaubwürdigen Lavieren benötigt. Ganz besonders zu Rückzügen, die Freund und Feind nach einigem Entsetzen notdürftig besänftigen. »Es hätte alles noch viel schlimmer kommen können«, rufen alle dankbar aus. Das gilt wie sonst nirgends für den Sozialetat. Hier sehen sich SPD und ganz besonders PDS in Pflicht und Verantwortung. Sozialisten machen intern die Rechnung auf, was ihrer Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner zu Beginn der Haushaltsberatungen als Sparpaket zugemutet wurde. Aufgezählt werden eine Regelsatzabsenkung für alle Sozialhilfeempfänger, Wegfall des Landespflegegesetzes und damit mehr als 25 Millionen Kürzungen bei den schwer Hör- und Sehbehinderten, den Blinden und anderen Hilfebedürftigen. Dann kommt man auf die Einstellung des Sonderprogramms für Freie Träger im Ostteil, Absenkung der Bekleidungspauschale, Wegfall des Sozialtickets. Die Akte Sozialticket wird noch immer gern als offen präsentiert, doch gilt der Verlust des Fahrscheins längst als herbe Schlappe. Erst 2005 will und kann man das Problem mit neuen Verhandlungen angehen. Gegengerechnet wird, dass die Regelsatzabsenkung nicht stattfand, das Landespflegegesetz erhalten blieb und damit Kürzungen von rund 17 Millionen Euro abgewendet wurden. Die Prügel für das gekürzte Blindengeld nimmt man als etwas ungerecht unfroh hin. Weiterhin erinnert man sich eines Eckwertepapiers, das im Frühjahr 2003 der Finanzsenator vorlegte. Darin ging es um eine Kürzung der bezirklichen Sozial- und Jugendausgaben um 400 Millionen Euro bis 2006. PDS und Teile der SPD legten sich quer, die Bezirke erhielten 2003 trotzdem Rundschreiben der Finanzverwaltung mit diesen Vorgaben, bis sie inzwischen bereits zweimal korrigiert wurden: Im Juli 2003 erhielten die Bezirke für 2004/2005 rund 190 Millionen Euro, im Februar 2004 wurden nochmals 144 Millionen Kürzungen zurückgenommen. Größte Mühe bereiten offenkundig die Einsparungen bei Universitäten und Hochschulen. Angesichts der Studienkonten sah sich ein darob ungehaltener Wissenschaftssenator Thomas Flierl (PDS) sogar des Vorwurfs von Gebühreneinführung und damit Wahlbetruges ausgesetzt. Hier nun argumentiert man bei der PDS mit dem kleineren Übel. Die SPD fordere Studiengebühren, was der Koalitionsvereinbarung widerspreche. Finanzsenator Sarrazin habe damit mehr als 100 Millionen Euro von den Studierenden der Stadt kassieren und die Zuschüsse der Hochschulen entsprechend absenken wollen. Der Wissenschaftsetat sollte um 250 Millionen Euro abgesenkt werden. Doch beides sei mit der PDS nicht zu machen gewesen. Nun würden Hochschulzuschüsse um 75 Millionen Euro bis 2009 abgesenkt. Studiengebühren würden abgefangen von Studienkonten. Die aber bleiben unter dem Verdacht des Etikettenschwindels umstritten. Rot-Rot hat sicher manches unglückselig begonnen, anderes ist schief gelaufen oder hat übel geendet. In Vergessenheit geraten derweil Ursachen des Unglücks - wie der zerstörerisch radikale Abbau der Berlin-Subventionen nach dem Ende des Kalten Krieges. Auch weicht Wut über den Bankenskandal zunehmend dem Unwillen über dessen Bewältigung. So ungerecht kann Politik und deren Betrachtung durch Betroffene sein. Das »Zahlenwerk der guten Taten« wird trotzdem vornehmlich an den Schmerzen gemessen, die es bereitet, und nicht an verheißenen Segnungen ungewisser Zukunft.
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