nd-aktuell.de / 02.09.1994 / Kommentare / Seite 2

Wenig Konjunktur hat viel Konjunktur

Wahlkampf, Handicaps für die Erholung und Philistertum in der Verteilungspolitik

Von FRITZ FIEHLER

Der Bundesverband der deutschen Industrie rechnet nur mit einem „verhaltenen Wachstum“ Für das Bundeswirtschaftsministerium dagegen hat die Konjunktur festen Tritt gefaßt. Und den Wirtschaftsinstituten in Kiel, Hamburg und Berlin zufolge muß mehr für die Investitionen getan werden, ansonsten werden die Akzente unterschiedlich gesetzt. Die Aufschwungseuphorie ist verflogen, die Problemlagen machen sich wieder geltend und die Meinungen zur Konjunktur gehen, wieder auseinander. Das hat Gründe. Wiewohl Konjunktureinschätzungen stets schnell überholt sind, geht es in diesem Fall freilich auch um Wahlkampf jede,s Plus kommt der Regierung, jedes Minus der Opposition zu. Und schließlich geht es*üm die Verteilungspolitik.

Schwierig ist es bereits, den Ort der Konjunktur zu bestimmen, an dem sich die Bundesrepublik bereits befindet. Den unteren Wendepunkt scheint sie zum Jahreswechsel durchschritten zu haben. Mit Hilfe des konjunkturellen Vorlaufs in Nordamerika ist auch der unabdingbare Anstoß von außen erfolgt. Und im entscheidenden Aggregat - bei den Investitionen - tut sich etwas. Die Kapazitätsauslastung nimmt zu, eine Entspannung bei den Kosten eröffnet den Gewinnen einen Vorlauf und die Investitionstätigkeit beginnt reger zu werden.

Ist ein unterer Wendepunkt in der Konjunktur an sich schon durch ausgesprochene Unsicherheiten charakterisiert, .sind nun,iur die Wirtschaftsentwicklung zusätzliche Belastungsfaktoren., hinzugetreten. Dazu zählen die Unbe-

rechenbarkeit der Finanzmärkte, die Schiefheiten in den Verteilungsverhältnissen und die Abwesenheit jeglichen Sachverstandes in der Politik. In den Konjunktureinschätzungen von welcher Seite sie mit welchen Interessen auch immer geboten werden, kann nicht übersehen werden, daß die befürchteten Handicaps für die konjunkturelle Erholung eingetreten sind. Die steigenden Investitionen verbinden sich mit einer radikalen Rationalisierung, die für die Abkopplung der Beschäftigung vom Wachstum verantwortlich gemacht werden muß. Die Kapitalmarktzinsen sind nicht tief genug gesunken, das macht Investitionsfinanzierung und Staatsverschuldung teurer. Und die konjunkturelle Erholung bewegt sich auf schmalem Grat - die vorgepreschte Automobilindustrie hat das deutlich zu spüren bekommen.

Der Streit über die Konjunktur ist natürlich einer über die Konjunkturpolitik. Geboten wird ein Philistertum in der Verteilungspolitik ohne Beispiel. Im vergangenen Jahr sollten gedrückte Löhne für mehr Spielraum sorgen, in diesem Jahr wird jetzt die Enge der Märkte durch eine Nachfrageschwäche beklagt. Mit weniger Lohn war den Gewerkschaften mehr Beschäftigung versprochen worden. Löhne sind weniger verlangt worden, Beschäftigung hat es noch weniger gegeben. Wenn aber die Gewerkschaften jetzt gewillt sind, in diesem Sinne zum Verhandlungstisch zu kommen, dann heißt es, daß nicht über Beschäftigungsgarantien verhandelt werden könnte. Die.,LÖhne, so die Arbeitgeber, seien mit der Beschäftigung so eng auch wieder nicht verbunden. “ “ '