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  • Kultur
  • Carola Stern stellte ihr neues Buch vor

Himmel – Hölle – Varnhagen

  • Lesedauer: 2 Min.

Eine junge Frau, nicht schön, nicht groß, (noch) nicht gebildet, sitzt in einer ruckelnden Kutsche, die sie 1794 nach Breslau bringen soll, zu sittenstrengen Verwandten. Diese Aussicht nervt sie ebenso wie der penetrante Geruch eines Mitreisenden. Sie ist ungeduldig, unwirsch, ungerecht; sie ist, was sie später nicht mehr sein wird; sie wird auch, was sie einmal war.

Lachend erzählt Carola Stern, wie ihr Mann auf dieses erste Kapitel ihres Buches über Rahel Varnhagen, geborene Levin, reagiert hat: „Und mit dieser arroganten Person sollen wir drei Jahre leben?!“ Sie taten es, und das Ergebnis mehrjähriger Studien, das soeben bei Rowohlt erschienene Buch „Der Text meines Herzens“, stellte die Autorin am Dienstag im Musikclub des Berliner Schauspielhauses vor. Nach ihrem Band „Ich möchte mir Flügel wünschen“ über Dorothea Schlegel nun also Rahel Varnhagen, die unglücklich Liebende, die selbstlose Förderin, die lebendige Anregerin, in deren Berliner Salon sich Schöngeister aller Couleur die Klinke in die Hand gaben. Drei Kapitel las die von Gerhard Wolf eingeführte Kölner Autorin, der eine Gratwanderung gelungen scheint: Faktisches und Fiktives sind so miteinander verwoben,, daß ihre Biographie einem Spaziergang ähnelt, mit Wind, plötzlichem Regen, aufreißenden Wolken,

wärmender Sonne und ausgiebigen Gesprächen unter schattigen Bäumen. Weder Hannah Arendt noch Ellen Key oder Herbert Scurla haben Rahels Zwiespalt und Fazsination in einem solchen Wechselspiel erfühlt und erfaßt wie Carola Stern.

Rahel Varnhagen war ja nicht nur die Tochter ihres Vaters, eines Tyrannen, dessen größte Lust in der Unlust bestand. Sie war nicht nur die Frau, die ihre Liebe an Unwürdige - wie den Grafen von Finckenstein oder den spanischen Diplomaten Raphael d' Urqilo - verschenkte, und die, weil sie eine Frau war, nichts galt. Sie war nicht nur eine Jüdin, die, wie alle Juden damals, Berlin lediglich durch zwei Tore betreten oder verlassen durfte, rechtlos, beinahe vogelfrei. Sie war nicht nur inspirierende Muse und verehrte Gastgeberin, sondern auch von jeglichen Disputen über Politik ausgeschlossen. Also einsam. Und trotzdem offen. Wie niemand sonst verstand sie das ungehemmte Eigenleben anderer, sie selbst jedoch wagte nicht, was sie wollte. Himmel-Hölle-Varnhagen. Carola Stern findet die Balance zwischen Nähe und Distanz - dank Charme. Ein heiterer Abend.

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