Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Kultur
  • „Die Verschwörung“, Erzählungen von JAAN KROSS

Herzenswärme in kalter Welt

  • Lesedauer: 4 Min.

t Als ich Jaan Kross Mitte der ' siebziger Jahre bei einer Reportage in Tallinn kennenlernte, wußte ich nicht, daß er und seine liebenswürdige Frau Ellen Niit, die zu den beliebtesten estnischen Dichtern gehören, mit einer alles andere als liebenswürdigen Lebensgeschichte umzugehen haben. Nun hat der dipa-Verlag Frankfurt/Main einen Erzählungsband von Jaan Kross herausgebracht, aus dem ich erfahre, daß dieser Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann, erst von den Nazis eingesperrt wurde, wofür Gründe vorstellbar waren, dann aber auch von den Sowjets, die ihn für Jahre nach Sibirien schickten. Das Lagererlebnis schimmert durch seine Erzählungen, doch ohne den Haß und das Selbstmitleid, das man von anderen kennt, eher mit Ironie gegenüber den Tätern, die es fertigbrachten, neben Nazi-Verbrechefh gänzlich Unschuldige einzusperren, sogar solche, die selber gegen die Nazis gekämpft haben.

Nicht er selbst steht im Mittelpunkt der bedächtig verschlungenen Erzählungen, es sind andere Menschen, die durch Denunziation und Willkür zu Gefangenen der Stalin-Ära wurden. Ein Schüler zum Beispiel, der im Oktober 1945 aus Blödsinn dem Bild eines ihm Unbekannten eine Zigarettenkippe zwischen die Lippen klebte und dafür wegen „terroristischer Tätigkeit“ eingesperrt wurde,, denn es war ein Foto Berijas. In dieser Geschichte, die dem Band den Titel „Die Verschwörung“ gab, beschreibt Kross, wer da alles in einer Zelle zusammenhockt, was mich an den alten Witz .erinnert: Der eine war für Popow, der andere gegen Popow,

Von GISELA KARAU

Jaan Kross: Die Verschwörung. Erzählungen. Aus dem Estnischen von Irja Grönholm und Cornelius Hasselblatt. dipa-Verlag Frankfurt/Main, 165S., geb., 36 DM.

und der dritte war Popow. Einem Mitgefangenen brachte der Erzähler den Vers bei: „Beim Schicksal der Welt wirkt halt/ jedes Gramm auf der Waagschale mit:/ Vom Lehrstuhl zur Irrenanstalt/ ist's oft nur ein kleiner Schritt.“

Da war ein Elektriker, der 1941 die Russen und 1944 die Deutschen gehindert hatte, eine Maschinenfabrik zu sprengen, indem er beide Male die Zündschnüre durchschnitt. Ein anderer ist der Dichter selbst, „ein langer Kerl mit einem neugierigen Gesicht. Bald siebenundzwanzig Jahre alt. Vieles ein wenig ausprobiert: dichten, flunkern, die Wahrheit erfahr ren, konspirieren, am Ende sogar dozieren. Dabei dann verhaftet zum Zwecke der Aufklärung dieser übermäßig vielen Dinge. Es gibt schließlich auch Pseudo-Insektenforscher, die ihre Objekte nur dann untersuchen können, wenn sie sie auf einer Nadel aufgespießt vor sich haben...“

Was Kross in diesem Band erzählt, spiegelt die schwierige Geschichte des kleinen Ostseelandes, über das so viele Herrschaften hinweggegangen sind, daß es in einem langen Leben fast unmöglich war, nicht mit der einen oder anderen Macht in Konflikt zu geraten, obwohl die Esten eigentlich ein friedfertiges Volk sind, naturverbunden, von dunkler Poesie, mit Liebe zu alten Sagen und Sitten, immer wieder in Kriege verwickelt, in ungewollte Bündnisse gezwängt.

Die Oktoberrevolution befreite sie vom Zarismus, die Deutschen befreiten sie von den Russen, die Sowjetarmee von den Deutschen, und schließlich befreiten die Esten sich selbst von der Stiefmutter Moskau, was mir heute mehr einleuchtet als gestern. Lange Jahre schrieb Jaan Kross historische Romane, in denen verschlüsselt auch Gegenwärtiges vorkam. Im reiferen Alter erst wandte er sich der eigenen Lebensgeschichte . zu. Manches mußte im Schubfach warten, bis die Zeit dafür gekommen war, denn als Dissident ist er nicht in Erscheinung getreten. 1982 notierte er: „Ich war gerade dabei, meine Doktorarbeit unter Dach und Fach zu bringen, als ich 1946 verhaftet wurde. Die folgenden acht Jahre waren natürlich ein unersetzlicher Zeitverlust, aber gleichzeitig auch eine einmali-, ge Studienzeit: die Möglichkeit, die Veränderung und Selbst- 1 behauptung unglaublich vieler verschiedener Menschen in einer für sie völlig untypischen Situation geradezu unter Laborbedingungen erforschen und begreifen zu können.“

Immer wieder stellt er Überlegungen an, daß im Leben nichts zufällig ist, daß alle Ereignisse Glieder einer Kausalkette sind, zwingend notwendig miteinander verbunden. Und er beweist durch seine Erzählweise, wie sich eins aus dem anderen ergibt, was nicht im Augenblick des Erlebens, sondern bei späterer Draufsicht deutlich wird, für den, der zu sehen versteht, den Dichter, den' phantasiebegabten Chronisten. Wenn ich ein Wort sagen soll, was mich vor allem anweht aus diesem schönen kleinen Buch, so ist es Wärme, trotz der kalten Zeiten und kalten Herzen, die er beschreibt.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal