nd-aktuell.de / 06.12.1994 / Politik / Seite 5

Noch einmal Gutmenschen

lust keine andere Lust mehr kennen“ Nun will ich Brigitten nicht beibiegen, daß es außer geistigen Lüsten auch noch andere gibt - da muß jeder selber dahinterkommen. Indes die „geistige Zerstörungslust“ - ich gestehe es - überkommt mich jetzt, wo sich der Kapitalismus so erfolgreich restauriert, auch immer wieder, und manchmal - pfui! - sogar ganz ungeistig. Ich weiß, ND-Autoren und Leser sind längst darüber hinweg und gerade wieder einmal tapfer dabei, konstruktiv zu sein, resp. politikfähig und politisch berechenbar (sogar auch dann, wenn der Machtapparat ganz unberechenbar zugreift). Dazu gehört es, diszipliniert, noch besser aber offenen Maules und feuchten Auges sitzen zu bleiben, wenn Pastoren, die Fäuste durch Worte öffnen wollen, ihre schiefen Bilder über uns ergießen, wenn Friedensforscher mit nasser Aussprache über das Leben nach den Zeiten der Mißgunst salbadern

und liebe Sozialdemokraten Versöhnung herbeibetteln. Da frage ich mich: Was hat mir der Thierse denn getan, daß ich mich so weit erniedrigen sollte, mich mit ihm zu versöhnen?

Die Gutmenschen mit ihrer Sahnetörtchenmoral, die Versöhner und Verzeiher, die dreimal täglich die Bergpredigt rauf und runterklettern, wollen in einer zerrissenen, kulturell und moralisch verwüsteten Gesellschaft eine Menschengemeinschaft herbeibeten, wie sie verlogener nicht sein kann. Den alten Prügel Kohlscher und Waigelscher Machtpolitik schmücken sie mit dem Lametta „Betroffenheit“ und „ungeheure Wut und Trauer“ Linke sind traditionell anfällig für diesen Kitsch. Wo gesungen wird, da laß' Dich ruhig nieder Kirchentage und PDS-Kongresse, Lichterketten und ND-Humorseiten - allesamt Veranstaltungen einer durch nichts begründeten Hoffnung auf „das Gute“

Das verdruckste Deutsch und der Sozialarbeiterhabitus dieses und jenes ND-Autors gehen mir dabei ziemlich auf den Keks. Ihr Zeug liest sich, als sei das Hauptproblem linker Zeitgenossen, endlich wieder zu den guten Menschen gerechnet werden zu wollen - ein warmer Blick von Friedrich, ein nettes Wort von Roman, ein freundlicher Knuff in die Rippen durch unsere Regine - was würden sie drum geben. Habt uns ein bißchen lieb! Im Unterschied zu Brigitte hab' ich es aber gerne, wenn auch Kollegen, die mich nerven, gedruckt werden. Könnte ich mich sonst aufregen?

Nun jammert nicht, daß es „junge Welt“ und „Titanic“ gibt, die Euch gelegentlich Euren Kitsch um die Ohren haun (aber auch eigenen produzieren)! Für ein Blatt, das - um mit Brigitte zu sprechen -„die lächerliche Erschaffung von Feinden“ betreibt, fällt mir wenig ein. Wie doch dieser Text beweist.