nd-aktuell.de / 24.04.2004 /
Der nette Mann vom »Boom am Dom«
Vor 30 Jahren: Ende der unheimlich heimlichen Karriere des Kanzlerspions Guillaume
René Heilig
Der 24. April 1974 war ein Mittwoch. Laut »Neues Deutschland« waren »Kollektive im Wettbewerb um exakt erfüllte Pläne«, die Maxhütte sparte Material, das Kombinat Schaltelektronik Oppach erschloss Reserven. LPG- und VEG-Bauern schleppten Wanderfahnen auf ihre Dörfer. Der 1. Mai stand bevor. Und ganz wichtig war, es auf drei Seiten mitzuteilen, was der KPdSU-Generalsekretär Breshnew auf dem XVII. Komsomol-Kongress vor sich hin nuschelte. Auf der anderen Seite der Welt folterten chilenische Putschisten, in Nahost war mal wieder Krieg, US-Verteidigungsminister Schlesinger lobte die europäischen Verbündeten, dass sie ihre Rüstungsausgaben um 12 Prozent gesteigert hatten, die SPD schmiss Berufsverbotsgegner aus ihren Reihen.
Just zu jener Zeit, als ND-Abonnenten solche Informationen aus dem Briefkasten zogen, klopfte es in Bonn an die Tür der Familie Guillaume. Es war 6.32 Uhr. Beamte des Bundeskriminalamtes stürmten herein und beendeten die heimliche und für viele auch unheimliche Karriere des »Kanzlerspions« und seiner Frau. Im Dezember 1975 befindet das Oberlandesgericht Düsseldorf, der von den Medien als »größter Spionagefall der Nachkriegsgeschichte« bezeichnete Landesverrat von Günter Guillaume ist 13 Jahre Haft wert, und der von Frau Christel acht.
Obwohl diese Bewertung weit über die geheimdienstliche Bedeutung hinausgeht, so ist die Affäre - wie sich noch immer zeigt - ein Stoff, aus dem mehr als nur eine Geschichte »gestrickt« werden kann. Günter Guillaume - geboren am 1. Februar 1927 in Berlin, gestorben als Günter Bröhl am 10. April 1995 in Eggersdorf - hat zwischen 1951 und 1956 beim DDR-Verlag »Volk und Wissen« gearbeitet. Proforma, denn längst war die Übersiedlung der Eheleute Günter und Christel nach Westdeutschland beschlossen. Vom Ministerium für Staatssicherheit, das sich um entsprechende Ausbildung und Legende gekümmert hat. 1956 »flüchtet« das Paar. In Frankfurt am Main betreibt der nette junge Mann, der alsbald zu einem sehr engagierten SPD-Mitglied wird, das »Boom am Dom«. Der Kaffeeladen trägt den Mädchennamen seiner Frau. Zunächst jedoch macht Christel die vom MfS ersehnte Karriere. Als Sekretärin im Parteibüro der SPD Hessen-Süd. Sie zieht ihren Mann nach. Der ist zwischen 1963 und 1968 Sekretär des SPD-Unterbezirks in Frankfurt, dann Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Stadtrat und Stadtverordneter. 1968 organisiert Guillaume den Wahlkampf des Bundesverkehrsministers Georg Leber. Nun war es nur noch ein kleiner Schritt ins Kanzleramt. 1972 ist er Referent des Bundeskanzlers Willy Brandt.
Es lässt sich ohne viel Fantasie vorstellen, wie zufrieden seine Führungsleute in Berlin, Hauptstadt der DDR gewesen sein müssen. Aus welchen Gründen auch immer. Was »ihr Mann« den Auswertern auf den Tisch legt, ist inmitten des Kalten Krieges ein Beitrag zum Abbau von Ängsten. Der Gegner wurde berechenbar. So wie die eigenen Handlungen. Schon deshalb ist der Titel »Kundschafter des Friedens«, mit dem in der DDR die hässlichen Begriffe »Agent« und »Spion« ersetzt wurden, nicht so weit hergeholt.
Doch der Erfolg der Guillaumes war zugleich ein Misserfolg der Entspannungspolitik. Diese doppelte Bilanz lässt sich sogar aus Beiträgen der DDR-Presse herauslesen. Es waren mit Sicherheit nicht die langen Listen der zum 1. Mai Ausgezeichneten, die keinen Platz ließen, um die Verhaftung des MfS-Kundschafters mitzuteilen. Einen ersten Hinweis, dass sich zwischen beiden deutschen Staaten Missstimmung ausgebreitet hatte, war eine Seite-2-Meldung. Der ehrliche Makler Günter Gaus »teilte mit, dass er sich nicht in der Lage sähe« einen vereinbarten Gesprächstermin »wahrzunehmen«.
Doch offizielles Schweigen half nichts, Rundfunk und zwei Westfernsehprogramme transportierten die Top-Nachricht ebenso eilig wie ausführlich. Und wer deren Fortentwicklung aufmerksam betrachtete, konnte ahnen, dass sich im Schlepptau der »Affäre Guillaume« konservative Wellenberge sammelten. Am 8. Mai 1974 las dann auch der ND-Abonnent auf der Seite 1: »Bundeskanzler Brandt zurückgetreten«. Der Bonner Korrespondent war - durchaus nicht üblich - zu einem größeren wertenden Beitrag »verdonnert« worden. Kernpunkt: »Beobachter in der BRD-Hauptstadt sind sich einig darüber, dass... nicht die zu einem Riesenballon aufgeblasene Spionageangelegenheit im Bundeskanzleramt der Grund zum Rücktritt Brandts war.« Wie sehr auch Moskau um eine Begrenzung des politischen Schadens bemüht war, belegt ein Kommentar der »Prawda«. Ohne die Guillaume-Affäre zu erwähnen, geißelte man die »ungezügelten Propagandakampagnen« sowie die »Umtriebe der reaktionären Kräfte«, die eine »Hetzjagd« auf Brandts Kabinett eröffnet hätten.
Kurz nach der Rückkehr in die DDR, am 16. Dezember 1981, werden Günter und Christel Guillaume geschieden. Sohn Pierre, er war 17, als das BKA klingelte, stellte zum Jahreswechsel 1988/89 einen Ausreiseantrag aus der DDR. Jüngst hat er unaufgeregt ein traurig-ernstes Buch über das wichtige Kapitel deutsch-deutscher Beziehungen geschrieben, in dessen Mittelpunkt seine Eltern gestanden haben.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/52121.der-nette-mann-vom-boom-am-dom.html