nd-aktuell.de / 07.05.2004 / Politik

Entscheidung von Dien Bien Phu

Als General Giap vor 50 Jahren Frankreichs Kolonialarmee besiegte, war auch der deutsche Kommunist Erwin Borchers an seiner Seite

Dr. Rudolf Oelschlägel
Von der Schlacht von Dien Bien Phu am 7. Mai vor 50 Jahren ist allgemein bekannt, dass die Franzosen hier auch viele deutsche Fremdenlegionäre einsetzten. Von den Deutschen hingegen, die bei Dien Bien Phu in den Reihen der Viet Minh kämpften, wissen nur wenige. Zu diesen Deutschen gehörte der Lehrer Erwin Borchers alias Oberstleutnant Nguyen Chien Si.
Der junge sozialdemokratische Antifaschist Erwin Borchers, der als Lehrer an einem Frankfurter Gymnasium arbeitete, wurde nach der Machtergreifung der Nazis als einer der ersten gefeuert. Nach einiger Zeit im Gefängnis, floh er nach Frankreich, schlug sich dort als Buchverkäufer durch. Als »feindlicher Ausländer« kam er nach Beginn des Zweiten Weltkrieges in ein französisches Internierungslager, wo man ihn vor die Alternative stellte: Lager bis zum Kriegsende oder Dienst in der Fremdenlegion. Borchers entschied sich für das Letztere in der Hoffnung, in der Legion gegen den Faschismus kämpfen zu können. Diese Illusion verflog schnell. Bei der Ausbildung in Algerien erlebte er die Brutalität des Legionärslebens. Er wurde auch nicht zum Kampf gegen Hitler eingesetzt, sondern nach Indochina verfrachtet. Dort sollten die französischen Überseegebiete rekolonialisiert werden. Er musste mit ansehen, wie einer seiner »Kameraden«, der sich in einer Rikscha fahren ließ, den Kuli nicht bezahlte, sondern kaltblütig niederstach. Erwin Borchers fasste den Entschluss, sich dem Befreiungskampf der Vietnamesen anzuschließen. In der Garnison Vietri, 80 km nordwestlich von Hanoi, fand er Gleichgesinnte - den Kölner Soziologiestudenten Rudolf Schröder und den Wiener Juden und Kommunisten Ernst Frey. Vietnamesische Kundschafter waren inzwischen auf die Dreiergruppe aufmerksam geworden. Es kam zu einem ersten illegalen Treff. Die Vietnamesen hatten ein Anliegen: Die Anhänger von General de Gaulle unter den französischen Soldaten und Offizieren sollten für den Kampf gegen die Japaner mobilisiert werden. Erwin Borchers sagte sofort zu. Er erhielt einen vietnamesischen Decknamen und wurde bald darauf Mitglied der KP Indochinas. Die Japaner versuchten mit einem Gewaltstreich, die sich abzeichnende militärische Niederlage abzuwenden. Am 9. März 1945 überfielen sie schlagartig alle französischen Garnisonen in Vietnam und inhaftierten die Soldaten, darunter Borchers, Schröder und Frey. Partisanen holten die Drei aus der Zitadelle von Hanoi und brachten sie zum Hauptquartier des vietnamesischen Widerstandes, wo sie der Befehlshaber der Armee, General Vo Nguyen Giap erwartete. Der militärisch geschulte Frey wurde für Jahre einer der engsten Mitarbeiter des Generals. Borchers und Schröder übernahmen Funktionen im Bereich der politischen Propaganda. Gemeinsam brachten sie die erste Zeitung des Viet Minh in französischer Sprache heraus. Nach der August-Revolution 1945 und der Gründung der Demokratischen Republik Vietnam wurde Borchers auch Rundfunkkommentator. Doch diese Zeit des Aufbruchs endete jäh im Dezember 1946, als Frankreich wortbrüchig Hanoi überfiel. Die Regierung zog sich in die nordwestlichen Landesteile zurück, um von dort aus den nationalen Widerstand zu organisieren. Auch Erwin Borchers verließ Hanoi. Im provisorischen Hauptquartier der Armee ernannte ihn General Giap zum Oberstleutnant. Als Chef der Spezialpropaganda sollte er sich an der Front vor allem an Deutsche und Franzosen in der Legion wenden, sie zum Nachdenken über den Krieg anregen und zum Wechsel der Seiten auffordern. Für den Deutschen begannen acht unsagbar schwierige Jahre im Dschungel. Er entwarf Flugblätter und schrieb Artikel für die Zeitung »Waffenbrüder«. Bevor die 5000 Exemplare gedruckt, über die Linien gebracht und den Legionären zugespielt werden konnten, musste er die Manuskripte jedes Mal selbst auf gefährlichen Wegen zur Druckerei bringen. Mehrere Begegnungen mit Ho Chi Minh wurden für Erwin Borchers zu unvergesslichen Höhepunkten jener Jahre des Kampfes, in denen er auch sein persönliches Glück fand - die Liebe der Vietnamesin Le Thi Binh. Im Winter 1953/54 hatte der Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Indochina das Tal von Dien Bien Phu als Schauplatz einer Entscheidungsschlacht ausgewählt. Erwin Borchers kannte die Entwicklungen aus den Lagebesprechungen bei General Giap. Und er hatte bemerkt, wie dieser lächelte, als ihm die Meldung von der Landung der Franzosen überbracht wurde. Am 12. Februar war es soweit. Erwin Borchers bekam den Befehl, sich sofort nach Dien Bien Phu zu begeben und dort beim Stab zu melden. Beim Abschied von seiner Frau bat er sie, seiner jüngsten Tochter, den Namen Viet-Duc, d.h. »Vietnamesisch-Deutsch« zu geben. Er sollte sie immer an den Vater erinnern. Unterdessen hatten sich über 16000 Soldaten der Kolonialarmee, darunter viele deutsche Fremdenlegionäre, im Talkessel von Dien Bien Phu eingegraben. Sie hatten ein unendliches Labyrinth aus Stacheldraht, Minenfeldern und Geschützstellungen errichtet und warteten nun auf den Angriff des Viet Minh in der Gewissheit, dass ihre Dschungelfestung uneinnehmbar war. Sie wussten nichts von der gründlichen Vorbereitung der Vietnamesen. Als General Giap den Befehl zum Angriff gab, schlugen gleich in der ersten Nacht über 9000 Geschosse und Granaten in den feindlichen Stellungen ein. Die Bergfestung erwies sich als tödliche Falle für die Kolonialarmee. Die Soldaten des Viet Minh trieben Gräben in die Linien der Franzosen vor, aus denen der Sturm auf die Bunker begann. Erwin Borchers und seine Truppe nutzten die Gräben, um zwischen den Angriffen über Lautsprecher zu den Fremdenlegionären zu sprechen. Nur 140 folgten den Aufrufen, die Waffen niederzulegen. Am 7. Mai war die Festung Dien Bien Phu erobert, die französische Kolonialherrschaft in Indochina Geschichte. Erwin Borchers begleitete die 10000 Gefangenen in die Lager des Viet Minh. Das war seine letzte militärische Aufgabe. Danach arbeitete er mehrere Jahre für DDR-Medien. 1966 übersiedelte er mit seiner Familie in die DDR, wo er noch einige Zeit für Radio Berlin International arbeitete. 1984 starb er. Seine Tochter Viet-Duc studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden, heute lebt Claudia Borchers als Grafikerin und Malerin in Berlin. Ganz im Sinne von Erwin Borchers führt der Solidaritätsdienst-international e.V. (SODI) die Solidarität mit Vietnam heute fort. Mit seinem Programm zur Minenräumung und Wiederansiedlung am 17. Breitengrad hilft er, die Folgen jahrzehntelanger Kriege zu überwinden. Noch in diesem Sommer soll der Aufbau des dritten »Dorfes des Friedens und der Solidarität« beginnen - ganz in der Nähe der ehemaligen Festung Khe San, wo US-amerikanische Militärs während der Tet-Offensive der vietnamesischen Befreiungskräfte von 1968 ihr eigenes Dien Bien Phu befürchten mussten. Unser Autor hat als Hochschullehrer in der DDR Vietnamesen betreut