nd-aktuell.de / 08.06.2004 / Gesund leben

Borderline-Störung: Wenn zwischen Schwarz und Grau das Weiß fehlt

Die Borderline-Störung ist eine häufige psychische Erkrankung. Die Symptome liegen an der Grenze zwischen Psychose und Neurose. Experten gehen von einer Million Betroffenen aus, meistens zwischen 18 und 25 Jahren.
Die Nachbarin, durch den Lärm aus der Wohnung des 23-Jährigen nebenan aufgeschreckt, hatte die Polizei verständigt. Die Beamten fanden ihn mit Blutergüssen und zahlreichen Platzwunden auf der Stirn und forderten einen Notarzt an. Nach der chirurgischen Versorgung wurde der Patient schon am nächsten Tag wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Dass der junge Mann an einer der häufigsten psychischen Erkrankungen, der Borderline-Persönlichkeitsstörung, litt, entging den Helfern. Erkennen sie in einem Fall wie diesem, dass der Patient sich die Wunden selbst zufügte, wird der Betroffene nach der Erstversorgung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Häufig steht dann der Suizidversuch im Mittelpunkt der Behandlung, seltener die zu Grunde liegende Identitätsstörung. Vor diesem Hintergrund vermutet der Psychiater und Psychologe Andreas Remmel vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim durchaus mehr Borderline-Betroffene als die offizielle Million.
Borderliner pflegen häufig exzessive, aber sehr instabile Beziehungen und zeigen selbstschädigendes Verhalten, z.B. bei Geldausgaben, riskanten sportlichen Aktivitäten, Sexualität. Häufig sind Alkohol- und Drogenmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, »Fressanfälle«, wiederholte Selbstmordversuche und massive Selbstverletzungen. In der Welt gibt es nur schwarz und weiß, Grautöne fehlen. »Die Krankheit zeichnet sich durch ein tief greifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild des Patienten, in seinem Umgang mit Gefühlen und durch eine hohe Impulsivität aus«, so Remmel. Die Patienten erleben ein chronisches Gefühl von Leere und heftige Wut. Vorübergehend kann es zu Wahnvorstellungen und Bewusstseinsstörungen kommen.
Eine allgemeine Psychotherapie, oft in Kombination mit Medikamenten, bringt selten Erfolg. Bewährt haben sich Modelle von Neurobiologen, die Betroffenen erfolgreich die quälenden Spannungen nehmen. Als Favorit gilt ein mehrstufiges Programm der US-Psychiaterin Marsha Linehan, mit dem zunächst versucht wird, die selbstverletzenden und suizidalen Verhaltensweisen zu reduzieren, ehe Beziehungsverhalten und die Wahrnehmung der Gefühlswelt trainiert werden. Ein Team um den Mannheimer Psychologen Remmel fand heraus, dass Borderliner während oder seit ihrer Kindheit Ablehnung, Vernachlässigung oder Gewalt durch wichtige Bezugspersonen erlebt und eine Störung ihrer Emotionsverarbeitung entwickelt haben. Bei Frauen fanden sich Hinweise auf Gewalterfahrungen und sexuellen Missbrauch. Je früher solche Erfahrungen gemacht wurden und je enger die Bindung zum Täter (Elternteil), umso zersplitterter die Identität und gravierender die Störungen im Erwachsenenalter. Für die Impulsivität scheint es genetische Faktoren zu geben. Auf Grund dieser Aspekte hat Remmel Prognosefaktoren herausgearbeitet, die künftig Einfluss auf die Versorgung haben werden. Die Therapie ist langwierig, u.a. weil Betroffene häufig Behandlungsabbrüche provozieren, um die Beziehung zum Therapeuten zu prüfen.
Hellhörig sollte man werden, wenn sich jemand zurückzieht, grüblerisch wird, eine andere Identität annimmt, Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten entwickelt. Dann sollte das Gespräch oder der Kontakt zu einem Arzt gesucht werden. »Verständnis entlastet die Betroffenen und fördert die Bereitschaft, sich helfen zu lassen«, so Remmel, der gemeinsam mit Prof. Martin Bohus am ZI Mannheim eine Forschungsgruppe Borderline aufbaut.

Wolfgang Kappler


INFO - www.borderline-community.de
www.borderline-selbsthilfe.de
www.medicine-worldwide.de