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Halali überm Potsdamer Platz

Tutender dicker Wachtmeister schafft Ordnung im Getümmel

  • Lesedauer: 3 Min.

Leipziger Straße um 1910: Keine Stille, kein leises Pferdegetrappel einer vorüberziehenden Kutsche, kein einsamer Wanderer, sondern: „Auf dem Damm kriechen die Elektrischen ihren hilflosen Schneckengang vom Spittelmarkt zum Potsdamer Platz. Die Droschken jonglieren sich durch..., die Autos versuchen durchzukommen, und die Chauffeure ärgern sich, daß sie die Motoren alle Augenblicke abstellen müssen, und die Fußgänger wagen mutig ihre Knochen, um die andere Seite der Straße zu erreichen. Ein einziges großes, nie stillstehendes Uhrwerk.“ Die Leipziger war damals die verkehrsreichste Straße Berlins. Der Strom flutete vor allem westwärts und ging vom Potsdamer Platz a'us in verschiedene Richtungen auseinander

Der begünstigte Ort zog die großen Kaufhäuser von Tietz, Jandorf und Wertheim an, und die wiederum sorgten für neuen Massenandrang von Berlinern und Gästen „aus der Provinz“ Der „Stadtreisende mit dem Besuchszylinder“, der kleine Laufbursche, die Juristen mit ihren eben aufgekommenen „Rechtsanwaltsportofeuilles“ (Aktentaschen) und Frauen, die einkaufen möchten oder schlendern oder nur gesehen - und angesprochen werden wollen.

Am Ende der bewegten Straße - der Potsdamer Platz. „Zwischen den Torhäuschen, diesen alten Wahrzeichen einer stillen gemütlichen Zeit, ergießt sich die Welle der Großstadt. Abends tänzelt warmes.

violettbraunes Licht von den hohen Kandelabern, alles in eine festfrohe, bengalische Stimmung gießend.“

Aber dann geschieht etwas Altmodisches und Seltsames: Über dem Platz tönt „ein merkwürdiges Getute, wie wenn ein Jäger Halali bläst“ Nach diesem Trompetensignal ist plötzlich der Platz leer Polizisten sperren ihn an allen Ausfallstraßen ab, um den Passanten das gefahrlose Überqueren zu ermöglichen. Und wieder stößt der „dicke Wachtmeister in der

Mitte des Platzes in sein Hörn Die schnauzbärtigen Schutzleute, die den Potsdamer Platz umsäumen, heben die rechte Hand, und alles eilt und springt, das rettende Trottoir zu erreichen. Der Verkehr rollt wieder von allen Seiten los.

Dieser Bericht ist keinesfalls übertrieben: Schon 1904 führten über den Potsdamer Platz 22 Straßenbahnlinien mit 300 Wagen pro Stunde, dazu kamen 142 Omnibusse, 1275 Fuhrwerke, und mehr als 9000 Fußgänger passierten den Platz in derselben Zeit. Jetzt ist Feierabendzeit, mittwochs, da ist Tanztag der Mädchen aus den nahen Konfektionsbetrieben. Nun geht es zu den Bahnhöfen und dann nach Haiensee, nach Südende, Wilmersdorf, „hinaus zu Lust und Tanz, bis die Beinchen nicht mehr können“ und am nächsten Tage der Lagerchef ein paar Anschnauzer verpassen

muß „wegen der falsch aufgeklebten Etiketten.“

Der Autor dieser Beobachtungen war Edmund Edel. Ihn lockte das Straßentreiben, das Getümmel der Tanzlokale, Varietes und Theater, er schrieb über die Berliner Cafes, über Modekultur und den verschwindenden Typus des Kavaliers seine schmissigen Reportagen.

Der 1863 in Pommern Geborene kam früh mit den Eltern nach Berlin. Eigentlich zum Kaufmann bestimmt, fühlte er einen starken Hang zur Kunst und studierte in München und Paris Malerei. Seit 1892 lebte er als Künstler in Berlin. Er arbeitete als Illustrator und Plakatzeichner und brachte das moderne Pariser Plakat nach Berlin; George Grosz schätzte den Kollegen. Aber stärker waren Edels literarische Interessen, schließlich stand im Adreßbuch neben der Wohnung in der Charlottenburger Georg-Wilhelm-Straße 6 nur noch „Schriftsteller“

Wie im Buch „Neu-Berlin“, aus dem die Einblicke in die Leipziger Straße und den Potsdamer Platz stammen, hat er in seinen vielen Beiträgen, die in den Bibliotheken vergraben sind und der Wiederentdekkung harren, eine bunte Stadtgeschichte von der Jahrhundertwende bis in die 20er Jahre aufgezeichnet. Edmund Edel starb 1934.

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