Brüssel und die tschechische Seele

Die zehn Neuen vor ihrem Beitritt zur Europäischen Union

  • Aus Prag berichtet Olaf Standke / Heute: Tschechische Republik
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.

Die Europäische Union steht vor der größten Erweiterung ihrer Geschichte. Am 1. Mai 2004 werden zehn neue Mitglieder aufgenommen. ND berichtet in einer Serie über die Beitrittsländer.

Kann man wirklich in seinem Arbeitszimmer schlafen? Ja, es ist frei. Na dann, nehmen wir doch Zimmer 214. Kafkaeskes Gefühl: Von der einen Wand blickt ernst der junge K., von der anderen Mutter und Vater, die dritte schmücken Bilder der Frauen, die in seinem Leben Hauptrollen spielten. Hier stand der Schreibtisch des Dr. jur. Franz Kafka, hier stieg er tags in 14 langen Jahren vom Aushilfsbeamten zum Obersekretär der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen auf, während er nachts seine Geschichten schrieb. Ein »schreckliches Doppelleben«, notierte er im Tagebuch, das Büro eine gespenstische Grube, die Aktenberge ein Alptraum. Keiner hat das Bild undurchschaubarer Bürokratien und ohnmächtiger Bürger so prägend gezeichnet wie Kafka. Was er wohl dazu sagen würde, dass sein Amt, das die letzten Jahrzehnte rußgeschwärzt dahindämmerte, zum Hotel mutiert ist? Ein Haus der gehobenen Kategorie unweit vom Pulverturm. Geschickt werben die französischen Besitzer mit Kafka, der zum Marketingfaktor an der Moldau geworden ist. Jedenfalls für Literaturfreunde. Andere bevorzugen Bier, Becherovka und böhmische Mädchen. Prag ist auch an trüben Dezembertagen gut besucht. Auch wegen des historischen Flairs - nur an wenigen Stellen ist der Kontinent im besten Sinne des Wortes so »alt« wie hier, weshalb die von tschechischen Politikern gern gebrauchte Formel von der »Rückkehr nach Europa« immer ein bisschen albern klingt. Aber natürlich locken auch die - zumindest für Euro-, Dollar- und Yen-Besitzer - nach wie vor moderaten Preise. Allein zwischen Weihnachten und Neujahr wurde mit über 260 000 ausländischen Gästen gerechnet, die etwa 2,3 Milliarden Kronen (gut 70 Millionen Euro) in die Kassen spülen sollen. Andere wiederum haben deshalb keine Chance. Der obdachlose Bettler in der Bummel- und Einkaufsmeile Na Prikope hält seinen Platz vor einer Bank nicht allzu lange. Schnell tauchen zwei Uniformierte auf und führen ihn unsanft weg. Tschechische Gäste findet man in den Hotels und Restaurants am Wenzelsplatz selten. Zu teuer. Nicht nur Jana, die kellnernde Anglistik-Studentin, befürchtet, dass mit dem Eintritt in die Europäische Union die Lebenshaltungskosten weiter steigen werden. Wie so mancher im Lande ist sie in Sachen EU zerrissen - beruflich sieht sie neue Möglichkeiten, aber sie versteht auch die Ängste ihrer Eltern und Großeltern. 16 000 Kronen verdient Jiri Normalverbraucher monatlich, rund 500 Euro. Etwa 8000 Kronen erhält der statistische Rentner im Schnitt. Zwar sind Brot, Bier und andere Grundnahrungs-mittel weiter billig und auch die Mieten in kommunalen Plattenbauten erschwinglich. Aber viele Konsumgüter kosten heute schon mehr als in Deutschland. Meinungsumfragen belegen: Ein knappes halbes Jahr vor dem Beitritt rechnet eine große Mehrheit mit höheren Preisen für Lebensmittel, Energie und öffentliche Verkehrsmittel, 41 Prozent erwarten wachsende Arbeitslosigkeit.
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Tschechische Republik
Fläche: 78 866 km²
Einwohner: 10,25 Mio / 130 je km²
Hauptstadt: Prag, 1,2 Mio Einw.
Bruttosozialprodukt je Einw.: 5310 US-Dollar
Arbeitslosigkeit: 9,8 Prozent
Wirtschaftswachstum: 3,5 Prozent
Auslandsverschuldung: 23,8 Mio US-Dollar
Inflation: 1,8 Prozent
Währung: Tschechische Krone
ND-Karte: Wolfgang Wegner
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Inzwischen ist auch in Tschechien, wo eine relativ vorsichtige Privatisierung länger als anderswo für stabile Beschäftigungsverhältnisse sorgte, jeder Zehnte ohne Job. Kein Wunder, dass sich beim Referendum zwar 77 Prozent für den EU-Beitritt aussprachen, aber nur 55 Prozent der Stimmberechtigten überhaupt den Weg in die Wahlkabine fanden. Jaroslav Sonka, Studienleiter an der Europäischen Akademie zu Berlin und Pendler zwischen Spree und Moldau, beklagt die Entpolitisierung der tschechischen Gesellschaft und macht dafür die Politiker verantwortlich. Männer wie den nunmehrigen Präsidenten Vaclav Klaus, der mit seiner unverhohlenen Ablehnung des Molochs Brüssel die Euroskepsis im Lande schürt. Aber auch im linken Lager weiß man nicht recht mit dieser EU umzugehen. In der KP Böhmens und Mährens, die in Umfragen knapp 20 Prozent erreicht, aber bei den Wahlen zum Europaparlament im nächsten Jahr wegen ihres bisher EU-kritischen bis -feindlichen Kurses einen Einbruch befürchtet, tobt ein regelrechter Flügelkampf. Senator Emil Skrabis gehört zur älteren Generation und sitzt für die mitregierenden Christdemokraten im Parlament. Er versteht, dass sich viele in Tschechien schwer tun mit dem neuen »Überstaat«. Vor nicht gar zu langer Zeit hieß es noch: auf ewige Zeiten mit der Sowjetunion. Nun sollen nahtlos NATO und EU ihren Platz einnehmen. Das überfordere manchen. Und dann dieser Wust an Brüsseler Vorschriften! Da bekommen sogar Kleinigkeiten große Bedeutung, etwa wenn die eingelegten Würstchen, liebevoll Leichenfinger genannt, aus hygienischen Gründen von den Kneipentheken verschwinden müssen und es am Stammtisch so klingt, als hätten die Brüsseler Bürokraten ein Stück aus der böhmischen Seele gerissen. Doch steckt in dieser Schwejkschen Weltsicht zugleich ein Körnchen Wahrheit. Soziologisch formuliert: Eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Tschechien fürchtet die Ab- und Aufgabe von Souveränitätsrechten, auch die Dominanz der »Großen« machen die Mächtigen in der EU halt, was sie wollen, das hört der gelernte Landwirt Skrabis immer wieder, auch von den Bauern, die sich mit 25 Prozent der bisher üblichen EU-Agrarsubventionen zufrieden geben müssen. Einerseits bescheinigen Untersuchungen Tschechien neben Slowenien, Estland und Ungarn unter den osteuropäischen Beitrittsländern die besten Bedingungen und Chancen. Auch deutsche Unternehmen, schon jetzt mit 25 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen sehr gut im Geschäft, wittern neue Gewinne. Telekom, E.ON oder RWE hoffen auf große Stücke vom nächsten Privatisierungskuchen, wenn es um Gas, Strom und Telefon geht. Qualifizierte Facharbeiter, aber niedrige Lohnkosten, steuerliche Vorteile und schwache Gewerkschaften locken Investoren nach Tschechien. Was man bei den Alt-EU-Nachbarn wiederum mit Sorgenfalten sieht. So galt die Ansiedlung des Schweizer Heizkörperherstellers AFG in Riesa lange als Erfolgsstory beim Aufbau Ost. Nach elf Jahren aber zieht das »scheue Reh« weiter. Der sächsische Standort sei zu teuer geworden, die Arbeitsstunde koste im Vergleich zu Tschechien ein Mehrfaches. Emil Skrabis macht andere Rechnungen auf: Nur die Hälfte der tschechischen Lebensmittelindustrie sei EU-kompatibel, die andere sei mittelfristig zum Untergang verurteilt. »Oder nehmen Sie die Stahlquoten. In kommunistischen Zeiten haben wir bis zu neun Millionen Tonnen pro Jahr produziert, jetzt sind es sechs. Letztlich wird jeder Zweite in diesem Industriezweig seine Arbeit verlieren.« Die Europäische Union hat in den schmerzhaften Jahren des Beitrittsprozesses eben erheblich an Strahlkraft verloren. Jeder zweite Tscheche erwartet inzwischen, dass mit der Aufnahme erhebliche Probleme auf die eigene Wirtschaft zukommen. Zdenek Kubinek versucht, das Glas lieber halb voll zu sehen. Er ist Bürgermeister von Roudnice, nur einen Katzensprung vom Rip entfernt, dem heiligen Berg der Tschechen. Die berühmte Adelsfamilie Lobkowitz hinterließ hier ihre Spuren, aber leider auch die Elbe, die beim Hochwasser im Vorjahr Shakespeare wahr machte: Man hatte tatsächlich den Eindruck, Böhmen liegt am Meer. Die Schäden waren enorm und sind noch nicht vollständig beseitigt. Auch Gelder aus Brüssel helfen beim Wiederaufbau. Überhaupt stößt man in der Gegend immer wieder auf Tafeln mit dem Zauberwort PHARE, das für Infrastruktur- und andere EU-geförderte Projekte steht. 18 Millionen Euro seien bisher in den Bezirk geflossen, 1,7 Milliarden sollen es seit 1989 für das ganze Land gewesen sein. Sie werden auch dringend gebraucht, in Roudnice etwa, um Ersatz für den Maschinenbau zu finden, der nach der Wende plattgemacht wurde. Andererseits kostet die EU auch Geld, berichtet Kubinek, etwa wenn die Sitze in den Schulen auf Brüsseler Norm zu bringen sind. Und man müsse an die Ängste der Bürger um Grundbesitz und Immobilien denken. Zwar wurde gerade ein Gesetz verabschiedet, das ihren Erwerb durch Ausländer begrenzt, in den nächsten fünf Jahren auch für EU-Bürger, bei landwirtschaftlichen Flächen oder Wald sind es sogar sieben Jahre. Aber »wer wirklich will, der umgeht das Gesetz«, erläutert der Immobilienmakler Daniel Krejca, »über eine hiesige Firma oder irgendeinen Mittelsmann«. Sorgen macht Kubinek noch ein anderer Punkt: »Unsere Identität, unsere Eigenheiten sollen in der EU gewahrt werden.« Nein, von Rassismus könne natürlich keine Rede sein, aber die Leute in seinem 13 000-Einwohner-Städtchen hätten schon jetzt ihre Schwierigkeiten mit der erheblich gewachsenen Zahl von Fremden - Ukrainer, Vietnamesen, Araber und Roma natürlich. Das Europaparlament hat wiederholt den diskriminierenden Umgang mit den Roma kritisiert, die EU-Kommission verlangt mehr Bemühungen bei der Integration dieser Bevölkerungsgruppe. In Roudnice hebt man die Hände und schaut Richtung Prag, aber tragfähige Konzepte hat man dort auch nicht. Nur, Brüssel wird's ebenso wenig richten. Wunderglauben an die EU beobachtet Katharina von Schnurbein häufiger im Lande. Die sympathische bayerische Frohnatur gehört zur Vertretung der Europäischen Kommission in Prag. Sie sieht ihre Aufgabe nicht nur darin, den künftigen EU-Bürgern die Wege durch das bürokratische Labyrinth zu den Brüsseler Fleischtöpfen zu weisen. »Die EU, das sind nicht nur Fördermittel, sondern auch Werte«, meint Frau von Schnurbein. Korruption gehört eigentlich nicht dazu. Aber der Bakschisch sei in Tschechien Alltag: bei der Wohnungssuche, in der Werkstatt, selbst bei Strafzetteln der Polizei. In der internationalen Korruptionsrangliste habe sich das Land weiter verschlechtert. Als besonders ärgerlich empfindet die junge Frau das Verhalten westlicher Firmen, die fleißig mitmachen, statt höhere Ethikstandards einzuführen. Wer sich die jüngsten Finanzskandale in der EU-Zentrale anschaut, der weiß: Das ist nun wirklich keine
tschechische Spezialität. Zwischen Prag und Zlin verbinden sich Ängste, Illusionen, aber auch Hoffnungen mit der EU. Hoffnungen auf mehr Sicherheit, Demokratie und Lebensqualität, sagen die Demoskopen. »Der wahre Weg«, schrieb Kafka, »geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden.«


»Wir wollen nicht am Rande stehen«
ND befragte den tschechischen Ministerpräsidenten Vladimir Spidla

In der tschechischen Politik wird oft ein rauer Ton gepflegt. Vladimir Spidlas Sache ist er nicht. Der Sozialdemokrat, seit dem Vorjahr Ministerpräsident, ist zurückhaltend und nachdenklich, eine »ehrliche Haut«, wie ihm selbst Leute zubilligen, die sonst kein gutes Haar an den Regierenden lassen. Trotz aller Probleme, ja er sei eindeutig für die weitere Integration Europas in der EU, betont der 52-Jährige bei einem Gespräch mit deutschen Journalisten in seinem Amtssitz. »Ich bin überzeugt, dass Europa die Fähigkeit haben muss, gemeinsam zu handeln«, sagte er gegenüber dieser Zeitung. Deshalb dürfe das »nationale Prinzip«, der Kampf der »Kleinen« gegen die »Großen« in der EU nicht dominieren. Die deutsch-tschechischen Beziehungen seien ausgezeichnet. »Es sind die besten seit dem Dreißigjährigen Krieg«, wagt der studierte Historiker einen Vergleich. Auch weil beide Seiten die so genannte Versöhnungserklärung sehr ernst nähmen. Selbst die Querelen um
das von der Sudetendeutschen Landsmannschaft geforderte Vertreibungszentrum können diese Einschätzung nicht beeinflussen. »Auch wir sind für eine Einrichtung, die sich mit dem Entstehen und den Folgen der europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Das
würde alle Fragen einschließen.« Ob jedoch Berlin der richtige Ort dafür wäre, das bezweifelt der tschechische Ministerpräsident. Da könne man fraglos bessere finden. Der EU-Bürger Spidla ist durchaus nicht mit allem zufrieden, was der umstrittene Verfassungsentwurf für die erweiterte Union enthält. Gut sei aber die »Stärkung des bürgerlichen Prinzips und des Europäischen Parlaments«. Er könne sich auch sehr gut vorstellen, dass in Tschechien in einer Volksabstimmung über die erste EU-Verfassung entschieden werde. Der Regierungschef Spidla plädiert auf jeden Fall nachdrücklich für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. »Das wird allerdings
ein sehr langer Prozess werden. Wir sind noch weit davon entfernt.« Doch bereits
die gemeinsame Grenze erfordere eine gemeinsame Politik.
Daran hat Spidla auch nach dem Scheitern des Brüsseler Verfassungsgipfels festgehalten. Allerdings habe sich die Gefahr einer EU der zwei Geschwindigkeiten erhöht. Seine Vorstellung sei ein Europa mit nur einer Geschwindigkeit und mit effektiver Integration. Es
gelte jetzt, in den Verhandlungen die Atmosphäre der Solidarität und der Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten. Tschechien wolle in der Union »nicht am Rande stehen, wir wollen Einfluss haben und einen Beitrag leisten zur Modernisierung Europas.« Das »europäische Modell« müsse erhalten bleiben: wirtschaftliche Effizienz und Demokratie in einer sozialen Marktwirtschaft. Reformen, an denen es auch im eigenen Lande Kritik gebe, wären auch ohne EU erforderlich gewesen, erklärt Spidla auf eine entsprechende ND-Frage. Aber natürlich habe man sie auf den Beitritt orientiert. Ein Gradmesser sei die Euro-Einführung. »Wir glauben, dass der Beitritt zur Währungsunion im Jahr 2009 optimal für uns wäre.« Trotz aller nationalen Egoismen von künftig 25 EU-Staaten bleibe er Optimist. Die bisher größte Erweiterung sei eine gro...

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