nd-aktuell.de / 08.07.1995 / / Seite 11

Die Wahrheit blieb auf der Strecke

DETLEV ZIMMERMANN

bender Antisemitismus gesellte. In diesen Strudel vielschichtiger politischer Intrigen, nationalistischer Emotionen und irrationaler antijüdischer Ressentiments geriet unversehens Alfred Dreyfus.

Postkarte niederländischer Dreyfusards

Portugiesische Postkarte zur Dreyfus-Affäre

Eckhardt und Günther Fuchs, letzterer erwarb mit einer de Gaulle- und Clemenceau-Biographie sowie einer Darstellung zum französischen Kolonialreich noch zu Zeiten der DDR Ankerkennung, gebührt das Verdienst, die spannungsgeladene Geschichte des jüdischen Hauptmanns in die Auseinandersetzungen ihrer Zeit zu stellen. Bei der Rekonstruktion der Ereignisse orientieren sich die Autoren an der Chronologie des Geschehens. Dem Prinzip der Ereignisgeschichte folgend, konzentrieren sie ihren Blick auf die Ausweitung des Fehlurteils zur ^Affäre Dreyfus“. Di© richterli« ehe Entscheidung spaltete die öffentliche Meinung des'Landes in Dreyfusards und Antidreyfusards. Die hinter dieser Kontroverse stehende prinzipielle Frage - Gerechtigkeit oder Staatsräson - beantworteten die hohen Militärs und führende Vertreter der „Classe politique“, obwohl von der Unschuld Dreyfus' zwischenzeitlich informiert, zugunsten des

vorgeblichen Staatsinteresses. Für sie war das Prestige der Armee unantastbar. Unter keinen Umständen durfte die Institution zum Gegenstand eines öffentlichen Skandals werden.

Das Engagement der Dreyfusards - 1898 veröffentlicht

Emile Zola seinen Brief an den Präsidenten der Republik unter der inzwischen berühmt gewordenen Überschrift „J'accuse!“ („Ich klage an!“) - erzwang 1899 einen Revisionsprozeß. Die Neuverurteilung Dreyfus' mit anschließender Begnadi-

gung entsprach weiterhin den Vorstellungen rechtskonservativer Kreise. „Die Regierung bereinigte die Affäre, aber die Wahrheit und die Gerechtigkeit blieben auf der Strecke.“ (S. 136) Immerhin dauerte es noch weitere sieben Jahre, bis die Dreyfusards 1906 die uneingeschränkte Rehabilitierung des Hauptmanns vor einem zivilen Kassationshof erreichten. Die Armee hat ihre Urteile von 1894 und 1899 im übrigen bis heute noch nicht aufgehoben.

Im letzten Kapitel verweisen die Autoren auf die Nachwirkungen der Affäre bis in die unmittelbare Gegenwart. Auch 100 Jahre nach dem Prozeßbeginn hält das rege publizistische Echo in unserem Nachbarland unvermindert an. Die Aktualität der Affäre sehen die Autoren in dem - ihrer Mei-.nung nach - generellen Umstand, daß auch in der heutigen Demokratie Machtmißbrauch unweit von Machtausübung angesiedelt ist.

Eckhardt Fuchs/Günther Fuchs: „J'accuse!“. Zur Affäre Dreyfus. Decaton Verlag, Mainz 1994. 171 S.. br., 19.80 DM.