nd-aktuell.de / 21.07.1995 / Kultur / Seite 12

In der NS-Provinz

PETER KOHLER

Nein, so fühlen sich keine Befreiten: „Der Krieg ist jedenfalls endlich vorbei. Deutschland hat bedingungslos kapituliert. Der Wahnsinn ist zu Ende... Alles war umsonst.“ Ilse Lege, 1931 geboren, hat diese Stimmung 1945 in Göttingen eingefangen; und Göttingens späterer Oberbürgermeister Artur Levi, 1946 aus dem Exil zurück, meint sogar, daß damals, wäre die NSDAP nicht verboten gewesen und hätte es freie Wahlen gegeben, die Nazis die Mehrheit errungen hätten.

Ilse Lege, deren Eltern nicht zum Widerstand gehörten, aber mit den Nazis auch nichts am Hut hatten, war in der Nazizeit noch ein Kind, aber sie hat aufmerksam beobachtet. Ihre Erinnerungen malen ein eindrucksvolles Bild vom, e,rscnrecke'hd' “normalen 'uria Beängstigend gefährlichen Alltag einer gewöhnlichen Provinzstadt während der NS-Zeit. Da ist der freundliche Pastor, der sich später als SA-Mann erweist. Da ist die fanatische Nazi-Megäre, die schon Verrat wittert, wenn ein Junge „Parademarsch, Parademarsch, der Hauptmann hat 'n Loch im Arsch“ sagt. Da sind die Mitläufer und Karrieristen ebenso wie jene, die hilfsbereit sind und Widerstand im kleinen leisten: der Kaufmann, der nach Geschäftsschluß russischen Gefangenen Kartoffeln und Rüben zusteckt, der Bäcker, der seine Zwangsarbeiter in die Hausgemeinschaft aufnimmt

Ilse Lege: Herr Kramer, Gespenster Erinnerungen 1933-1949. Satzwerk Verlag Göttingen. 199 S., geb.. 32,80 DM.

und Nachbarn, die daran Anstoß nehmen, barsch zurechtweist.

Die Verbrechen der Nazis können solche Erinnerungen allerdings, wenn überhaupt, nur andeuten - so, wenn plötzlich die jüdische Freundin Sonja verschwunden ist. Eher schon erscheinen die Deutschen selbst fast als Opfer, die unter Bomben und Hunger leiden. Doch zeigt Ilse Lege sehr wohl die Aufgeblasenheit und Gefährlichkeit der Nazis; und aufgeklärte Leser wissen ja, daß die Schrecken des Krieges eine Folge der Nazipolitik sind.

;.,, Ilse Lege - nach 45 Hilfsarbeiterin in einer Wäscherei, Sekretärin, Handelskauffrau schreibt einfach, anschaulich und spannend, verzichtet aufs Moralisieren und läßt ihre Erlebnisse für sich sprechen. Als Angehörige der letzten Generation von Augenzeugen, die den Vorteil hat, persönlich unbelastet zu sein und nichts beschönigen oder verdrängen muß, hat sie damit zumindest einen wertvollen Beitrag zur Alltagsgeschichte geleistet. Ihr Buch ist gelungene Geschichtsschreibung von unten. Weil sein Wert nicht nur in der Sache liegt, sondern auch in der Sprache, ist es vielleicht sogar mehr- Literatur.